Zürich, Konzert: „Ravel, Strawinsky“, Aurora Orchestra London unter Nicholas Collon

Ein unvergessliches Erlebnis, ja ein Ereignis, stellte dieses Konzert des Aurora Orchestra aus London dar, welches Migros-Kulturprozent-Classics vergangenen Montag in der Tonhalle Zürich präsentierte. Das Aurora Orchestra ist bekannt für seine innovativen Darbietungen klassischer Musik – doch dieses Konzert übertraf alle Erwartungen. Die hervorragenden Musiker des Orchesters, der Dirigent Nicholas Collon und der Solist Alexandre Tharaud ließen das Publikum tief eintauchen in die Klangwelt Ravels und Strawinskys.

Begonnen hatte das Konzert mit einem als „Musikalische Überraschung“ angekündigten Programmteil. Nur ein einsamer Trommler stand hinter seinem Instrument. Doch bereits nach wenigen Sekunden wurde klar, was hier im wahrsten Sinne des Wortes „gespielt“ wird: Ravels Boléro. Das Werk besteht nur aus einem einzigartigen Orchester crescendo, dem Ostinato des Trommelrhythmus und aus zwei Melodien, die unablässig und ohne jegliche Modulation wiederholt werden. Hier war es nun aber nicht so, dass die Musiker bereits auf dem Podium versammelt gewesen wären, auch ein Dirigent war vorerst nirgends zu sehen. Nach und nach erhoben sich die Mitglieder des Orchesters aus dem Publikum, oder kamen in den Saal, auf die Galerie oder aufs Podium. Auch der Dirigent Nicholas Collon kam gemächlich dazu und baute sein präzises Dirigat organisch aus dem Musizieren des Orchesters heraus auf. Selbstredend brauchte niemand Noten oder Partituren, alles wurde auswendig gespielt. Das Ergebnis war ein Surround-Sound-Klang Bad von unfassbarer Faszination und strotzend vor Energie, die abschließende Coda ein befreiender klanglicher Orgasmus.

Etwas traditioneller dann der Mittelteil des Konzerts, Ravels Klavierkonzert in G-Dur, mit dem renommierten Ravel-Spezialisten Alexandre Tharaud am Flügel. Wunderbar verspielt gelangen ihm die jazzigen Passagen des ersten Satzes, aber auch die Eleganz und die Geschmeidigkeit, die diesem Satz innewohnen. Eine Überraschung folgte aber dann aber auch hier: Im so wunderschönen, liedhaften Adagio assai erhob sich der Spieler des Englischhorns, schritt nach vorn, stellte sich neben den Flügel und duettierte zusammen mit dem Pianisten voller Innigkeit. Traumhaft. Rasant und packend das kurze Presto am Ende, wiederum gespickt mit jazzigen Elementen und alles von einer luftigen Leichtigkeit geprägt, mit dezenter, zirzensischer Würze. Mit der so wunderschön sanft dahinperlenden Zugabe (Erik Saties Gnossienne 1) gab er dem Publikum Zeit zur Einkehr.

Nach der Pause dann Strawinskys Suite L‘ oiseau de Feu, und zwar in der letzten Fassung von 1945. Das Podium war praktisch leer, keine Stühle, keine Notenpulte. Zuerst erläuterten Nicholas Collon und der Autor und Musikjournalist (bekannt auch als Präsentator der BBC-Proms) Tom Service in einem witzigen Dialog das Werk, brachten dem Publikum Terzen und Tritonus nahe, ließen uns alle russische Volksmelodien singen und wie Monster zischen. Die Bratschen und andere Instrumentengruppen unterstützten den Moderator und den Dirigenten bei ihren Ausführungen. Erst danach folgte die fulminante Wiedergabe der Suite am Stück. alle Musiker, die ihre Instrumente auch im Stehen spielen können (einzig eine schwangere Geigerin durfte sitzen), standen auf dem Podium, alle spielten erneut auswendig, auch der Dirigent hatte keine Partitur vor sich.

Foto vom Rezensenten

Das komplexe Werk lief in bestechender Präzision ab, die Konzentration auf der Bühne und im Saal war unter Hochspannung – und dank der Erläuterungen zu Beginn achtete man auf bestimmte Stellen und hörte ganz genau hin. Der Höhepunkt allerdings kam am Ende: Als Zugabe spielte das Orchester nämlich nochmals die finale Hymne der Feuervogel-Suite, aber diesmal erneut verteilt im ganzen Saal und auf der Galerie. So hörte man das Werk mit den Ohren eines Orchestermusikers, wenn neben ihm die schrille Piccoloflöte oder die Posaune sitzt, oder (wenn man Glück hatte) warme Celli- oder Bratschenkantilenen den Ohren schmeichelten. Auch choreografisch wurde so ein Bogen vom Beginn zum Ende des Konzerts geschlagen. Das Publikum im vollen Saal der Tonhalle war zu Recht ganz aus dem Häuschen! Gehaltvolle Klassik mit Eventcharakter, ohne anbiedernd zu sein. Weiter so!

Kaspar Sannemann, 1. November 2024


Ravel: Klavierkonzert in G-Dur
Strawinsky: Suite aus „Der Feuervogel“

Tonhalle Zürich

28. Oktober 2024

SolistAlexandre Tharaud 
Dirigent: Nicholas Collon
Aurora Orchestra London