Am Ende ist es eine ehemalige Hauptrollensängerin (Aida, Mimi, Turandot, Rusalka, Salome, Senta, so Sachen), die das Finale des dritten Akts rettet. Ihr Name muss, obwohl sie nur einige wenige Sätze sang, zuerst genannt werden: Ivana Šaková. Einst war sie die Milada, nun steht sie, die inzwischen als Ensemblemitglied des J.K. Tyl-Theaters sog. „Wurzen“ singt, als Einspringerin für die nach dem ersten Akt als indisponiert abgekündigte Radka Sehnoutková auf der Bühne. Schade, denn Paní Sehnoutková erfreute – wieder einmal – in der „kleinen“, aber unverzichtbaren Rolle der Jitka, also der einzigen weiblichen Solistenpartie in Dalibor, mit ihrem warm austarierten und ausgewogenen, mildgoldglänzendem Sopran. Schade auch, dass ihre Duettszene inkl. Chor, die den zweiten Akt so effektvoll einleitet, wegfallen musste, aber der Einsatz von Ivana Šaková ist nicht genug zu loben. Pralinen für die Einspringerin – und betont herzlich-heftiger Beifall des Publikums und des Ensembles.

Ansonsten läuft im Pilsener Dalibor sozusagen alles nach Plan – nach dem tschechischen Opernplan, mit dem historistische Opern immer noch gern inszeniert werden. Wer oder was aber ist Dalibor? Man muss es den deutschen Opernfreunden erklären: Gilt die Verkaufte Braut bei uns als die tschechische „Nationaloper“, so ist Dalibor, neben der Libuše, für ihren Schöpfer die repräsentative Oper gewesen, die für die heroische Vergangenheit des Volkes einstand. Dass sie 1868 aus Anlass der Grundsteinlegung des Nationaltheaters im Neustädter Theater uraufgeführt wurde, war kein Zufall, sondern pure Absicht. Wieder, wie bei den Brandenburgern in Böhmen, wählte Smetana einen Stoff aus der böhmischen Geschichte, doch diesmal einen sagenhaften. Nach dem Historienstück folgte das sog. Volksstück, nun die Böhmische Legende. Schrieb er die Verkaufte Braut, um seinen Kontrahenten zu zeigen, dass er durchaus kein Wagnerianer sei, sondern auch im „nationalen, leichtere Stil“ komponieren könne, wie er einmal sagte, ist Dalibor nicht ganz zu Unrecht des Wagnerianismus verdächtigt worden – doch welch ein Abstand zu Wagners Technik der Verarbeitung kürzester Motive. Fast alle wesentlichen Melodien der Oper hat Smetana dem initialen trauermarschartigen g-Moll-Motiv entnommen, ohne die Großstruktur des Werks im Sinne von Wagners reifer Musikdramaturgie mit einem Netz von Motiven zu überziehen.

Natürlich fällt in der ersten Szene die Ähnlichkeit mit der ersten Szene des Lohengrin auf. Eine Anklage wird hier wie dort vor dem König verhandelt, nur dass hier die Klägerin notwendigerweise eine Frau und dort der Kläger logischerweise ein Mann ist. Lohengrin repräsentierte tatsächlich, über 20 Jahre nach dessen Entstehung, auch bei den Tschechen den Wagner-Stil, da noch kaum etwas vom Ring bekannt und Tristan und Meistersinger noch nicht uraufgeführt waren; Kenner kannten natürlich die Partitur des Tristan und hatten 1859 und 1863 das Tristan-Vorspiel und den „Liebestod“ live in Prag hören können, ebenso einige Ausschnitte aus den Meistersingern (das Schusterlied wurde übrigens an der Moldau uraufgeführt) und „Bruchstücke“ (so nannte man das damals) aus dem Ring. Für einen „normalen“ Prager Opernbesucher war das alles eher unbekannt, so dass die Erinnerung einiger Einzelheiten des Dalibor an den Wagner des Lohengrin eher auf der Hand lag als die Bekanntschaft mit Wagners allerneuester Methode, mit 12 Tönen zu komponieren. Smetana komponierte zweifellos sehr genau, soweit es die Charakterisierung der Figuren und Handlungen betraf, doch ob die Ableitbarkeit fast aller Themen vom einleitenden Hauptthema als „wagnerisch“ bezeichnet werden kann: dies scheint eher ein Problem der Smetana-Kritiker, die nun vermehrt auf den Plan traten, als einer objektiven Analyse des musikalischen Materials gewesen zu sein.

Schon dramaturgisch vermittelt die Oper nach einem auffälligerweise aus dem Deutschen übersetzten Text von Josef Wenzig bzw. Ervín Spindler zu einem wesentlich älteren Typus: dem der „Befreiungsoper“, der mit dem Fidelio seine bekannteste Variante erfuhr. Dalibor hat den Bruder der Frau getötet, weil dieser seinen besten Freund Zdenék getötet hat. Aus der Anklägerin Milada wird die Liebende Milada, die sich, nachdem sie den Mörder ihres Bruders des Verbrechens angeklagt hatte, aufgrund seiner Verteidigung in den Delinquenten verliebt; sein Geständnis macht aus der hassenden Schwester eine liebende Befreierin. Zusammen mit Jitka, ihrem Freund Vitek, Dalibors Knappen, und einem Heer von Getreuen will sie den Mann befreien. So schmuggelt sie sich als Junge in den Kerker ein, doch der Plan fliegt auf. Es gelingt dem Helden nicht, mit Hilfe einer Violine das Zeichen zu geben, mit dem den Freunden signalisiert werden soll, dass nun ein erfolgreicher Ausbruch möglich sei. Am Ende stirbt Dalibor, indem er sich in das Schwert des Kommandanten der königlichen Burgwache stürzt. So kamen Schiller’scher Idealismus, Beethoven-Intrige und szenische Lohengrin-Anklänge zusammen, um ein Libretto zu ermöglichen, das v.a. in der Kerker-Handlung von Unstimmigkeiten nicht frei ist – doch all das „wird von Smetana sublimiert“, wie der Smetana-Kenner und -Verfechter Kurt Honolka schrieb: „Eine ‚Rittergeschichte‘ – Smetanas Vertonung adelt sie zu einem Gleichnis, in dem die Tschechen ihre nationale Tragik erkennen können, und der Rest der Welt, wenn er nur wollte, eine der musikalisch blühendsten Opern aus dem Dunstkreis Wagners.“
„Eine der musikalisch blühendsten Opern…“ Schwer, hier Einzelheiten herauszugreifen, die aus dem Dalibor ein musikalisches Gesamtkunstwerk machen, in dem sich Lyrik und Dramatik, singbarste Weisen und die Kunst der Variation, Rezitativ und Arie, Duett und Chor zu einem untrennbaren Amalgam vereinigen. Ich nenne nur Dalibors As-Dur-Arie aus dem Anklage-Bild oder die berühmte Szene, in der sich Dalibor mit inbrünstiger Zärtlichkeit an seinen getöteten Freund erinnert, wobei das Violinsolo (Zdenék war Geigenspieler) zu den vielen Kostbarkeiten dieser Partitur gehört. Echter Smetana ist auch der vitale Auftritt Jitkas mit dem gleichsam populär singenden Chor zu Beginn des zweiten Bilds, wunderbar die Arie des Königs Vladislav über die Pflichten eines Herrschers, und und und. Am Ende bleibt, trotz aller gedanklichen Motivarbeit und Hinwendung zu Wagners Prinzipien eines aus dem Motiv erwachsenen Geflechts von Themen, ihren Ableitungen sowie der Rolle des Orchesters der Gesang dominant. In ihm spricht sich die Seele aller Beteiligten aus. Umso erstaunlicher, dass die Premiere des Werks, auch die zweite Fassung beim Publikum nicht besonders gut ankam. Erst 1886 errang die Oper am Nationaltheater den Erfolg, den sie verdient – und erst 1924 kam Smetanas Original wieder auf die Bühne. Heute weiß man, dass der Komponist mit dem Dalibor wesentlich näher an sich selbst als an irgendeinem Wagner war.

Unterm Strich aber bleibt Dalibor eine Mischung aus einer typischen Geschichts- und Mittelalteroper des 19. Jahrhunderts und Smetanas allgemeingültigem Ethos. In Pilsen hat man die pur historisch gewandeten Figuren in eine von Daniel Dvořák entworfene Bühnenarchitektur gestellt, die reines 20. Jahrhundert ist; man möchte es als Melange aus tschechischem Funktionalismus und Surrealismus bezeichnen, die Tradition gibt es ja. In diesem Setting, in dem die zugleich symbolische wie reale Geige eine wichtige Requisitenrolle zu spielen hat und aus durchsichtigem Plastik ist (der Geigenbogen leuchtet wie ein Jedi-Ritter-Schwert), agieren die von Martin Otava geführten Figuren durchaus lebendig – die kühlen wie betont kargen Bühnenbauten geben ihnen die Möglichkeit, sich im Stil eines erzählerischen Bühnenrealismus szenisch auszuagieren. Das 19. Jahrhundert bleibt so präsent wie die gestisch zurückhaltenden (nicht statischen!) tschechischen Bühnenbewegungen des 20. Jahrhunderts, die Hauptsache spielt Smetanas geniale Musik, mit der er, Charaktere schaffend, in die lyrischsten Innenwinkel seiner leidenden Menschen hineinleuchtet, ohne dem äußeren, blechblasbetonten Gerichts- und Kampfdrama á la Käthchen von Heilbronn oder Lohengrin etwas abzuschneiden. Das „Heldentum“ bleibt „Heldentum“, die mehr als latente Homosexualität der Titelfigur bleibt undiskutiert, die Brechung dessen, was man seit einiger Zeit als „regelbasierte Ordnung“ bezeichnet, bleibt unkritisiert, wenn Jakub Pustina ihn mit seinem hell schmetternden, nur manchmal ein wenig zu dominanten Tenor heroisch heraussingt: allerdings mit dem nötigen Sinn für lagrimose Haupttöne. Kateřina Hebelková ist eine ganz wunderbare, mit einem füllig-lodernden, die Höhen wie die Tiefen souverän durchmessender Mezzosopran ausgestattete Vokalkapazität, der man jede Regung, jede Glut und jede lyrische Emphase glaubt. Der Abend erhält nicht zuletzt durch diese Sängerin seinen Glanz – das Orchester des Theaters Pilsen gibt unter Jiří Štrunc den seinen, einschließlich Solo-Violine und -Harfe, dazu. Denn die Geige des toten Zdenék, die Erscheinung in der und durch die Musik, wie nur Smetana sie seinerzeit komponieren vermochte, markiert einen wesentlichen Teil jener Passagen, in denen ein Orchester bzw. ein hervorragender Konzertmeister zeigen kann, was es im Einzelnen kann. Man kann es nicht oft genug sagen: Das Pilsener Orchester kennt seinen Smetana aus dem FF. Der Chor übrigens auch, der unter Jakub Zicha wieder einen harmonisch vollkommenen Smetana vom Feinsten über die Rampe bringt.
Wer sonst noch etwas zu singen hat, tut es mit Würde wie Martin Bárta, der den König, eine ferne Erinnerung an König Heinrich, mit seinem Bariton gleichsam edel ausfüllt. Was bei Wagner der Heerrufer ist, ist bei Smetana der Kommandant der Schlosswache, der mit einem Posaunenmotiv aufzutreten pflegt, das an den Kopf des so genannten Vertragsmotivs erinnert. Zufall? Auf jeden Fall eine musikalisch charakteristische Formel aus dem Geist der Klangrede der Wagner- und Smetana-Zeit. In Pilsen heißt der Hauptmann Daniel Kfelíř; er singt seine kleine und zugleich gewichtige Partie, eine Rolle für Hauptrollen-Sänger, so deklamatorisch stark und vokal ansprechend wie nur möglich. Den alten Kerkermeister macht Jevhen Šokalo, ein Mann aus der Ukraine, der seit 27 Jahren am J.K. Tyl-Theater in Pilsen singt und für die Qualität der Gesangskunst, die nichts mehr beweisen muss, aber auf ihre Weise authentisch ist, noch in den älteren Semestern sorgt.

Der Indisposition von Radka Sehnoutková, die sich übrigens allein an der verminderten Dynamik, nicht an der Beeinträchtigung des Klangs ablesen ließ, fiel am Abend die einzige bedeutende Duett-Szene zum Opfer, in der Tomáš Kořínek in der Rolle des Vítek hätte prunken können. Macht nichts, denn der gesamte Abend stand, abgesehen vom frühen Abgang der zweiten Sopranistin, unter einem guten Stern. Und wieder stellte sich die Frage: Wieso nur vernachlässigt man in den deutschen Opernhäusern das Erbe, das Smetana nicht zuletzt mit dem Dalibor der Nachwelt hinterließ?
Frank Piontek, 28. Februar 2025
Dalibor
Bedřich Smetana
J.K. Tyl-Theater, Pilsen
Besuchte Vorstellung: 27. Februar 2025
Premiere am 22. Oktober 2022
Inszenierung: Martin Otava
Musikalische Leitung: Jiří Štrunc
Orchester des J.K. Tyl-Theaters Pilsen