Krefeld: „Die Passagierin“, Mieczysław Weinberg (zweite Besprechung)

„Ich werde nicht müde, mich für die Oper ‚Die Passagierin‘ zu begeistern. Dreimal habe ich sie schon gehört, und jedes Mal verstand ich die Größe und Schönheit dieser Musik besser“. Selbst Dmitri Schostakowitschs Einsatz für seinen Freund und Kollegen Mieczysław Weinberg hat nicht verhindern können, dass dessen 1968 entstandene Oper erst 2009, also 40 Jahre später zum ersten Mal szenisch gezeigt werden konnte. Die Begrenzer Festspiele traten mit ihrer Uraufführung eine regelrechte Aufführungs-Lawine los, die nicht nur die Aktualität des Stoffs und die Qualität der Musik stets aufs Neue bestätigte. Man spürte schnell, dass „Die Passagierin“ modernes Musiktheater ohne abschreckende Provokationen in einem Format bietet, das auch mittlere und kleinere Bühnen angemessen stemmen können. In Nordrhein-Westfalen griff das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier als erste Bühne zu. Jetzt legten die Vereinigten Bühnen von Krefeld/Mönchengladbach mit einer Produktion nach, die sich sowohl sehen als auch hören lassen kann. Und das mit einer nahezu ausschließlich aus eigenen Reihen rekrutierten Besetzung, die auf beeindruckendem Niveau stimmlich und darstellerisch überzeugte.

© Matthias Stutte

Weinberg, 1918 geboren, wuchs in Warschau auf, flüchtete 1939 als Jude nach Minsk und Taschkent, bevor 1943 Schostakowitsch auf ihn aufmerksam wurde und ihn nach Moskau einlud, wo er bis zu seinem Tod 1996 mehr oder weniger erfolgreich und unbehelligt lebte. „Die Passagierin“ geht auf eine Novelle der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz zurück. Die Novelle verarbeitet eigene Erfahrungen, die die mit 19 Jahren inhaftierte Polin er- und knapp überlebt hat. Die Handlung: Auf einem Auswandererschiff nach Brasilien begegnet die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa 1959 der Gefangenen Martha, die Lisa für ihre Tätigkeit ausnutzte, bevor sie sie ihrem Schicksal überließ. Die Begegnung löst in Lisa eine heftige, von Schuldgefühlen und Verdrängungsmechanismen durchschüttelte Krise aus. Unpathetisch, kraftvoll, mit viel Einfühlungsvermögen für Täter und Opfer, deren Grenzen zeitweise verschwimmen. Das Fazit der „Täterin“ Lisa, typisch für den Umgang mit dem braunen Terror in den Nachkriegsjahrzehnten: „Jeder hat das Recht, den Krieg zu vergessen!“ Der ergreifende Schlussmonolog Martas schließt dagegen mit dem Appell: „Wir dürfen niemals vergessen!“

Das Libretto verzichtet auf plakative Darstellungen der Gräueltaten und nutzt eine Dramaturgie, die auch Leos Janáčeks bisher einzige wirklich überzeugende Lager-Oper nach Aufzeichnungen aus Dostojewskis sibirischem Tagebuch „Aus einem Totenhaus“ prägt. Es lässt die Menschen sprechen, ihre Gefühle, Träume und Ängste, zerrissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Alle Figuren erhalten so menschliche Züge, auch das KZ-Personal, was die Frage, wozu in unserem Alltag unauffällige, freundliche, musikliebende Menschen fähig sein können, um so bohrender und hartnäckiger stellt.

Zu hören ist eine Musik auf der Höhe Janáčeks und Schostakowitschs, die jede Figur ernst nimmt und jede ihrer seelischen Regungen punktgenau trifft. Kraftvoll, aber nie lärmend, mitfühlend, aber nie larmoyant, durchsetzt mit Erinnerungsfetzen an bessere Zeiten, ausgedrückt durch schlichte Lieder aus der Heimat der Gefangenen, gipfelnd in einer ebenso zarten wie überwältigenden Bach-Paraphrase im Angesicht der Todesmaschinerie. Eine auch handwerklich genial gestrickte Musik ohne plakativen Zeigefinger, dennoch mit der eindeutigen und das ganze Werk durchziehenden Botschaft: „Wir werden nie vergessen“.

© Matthias Stutte

Die begrenzten räumlichen und technischen Bedingungen des Krefelder Opernhauses nutzen Regisseur Dedi Baron und Bühnenbildnerin Kirsten Dephoff geschickt, indem sie die beiden Spielebenen, das aktuelle Schiffsdeck und die Rückblenden in die Lager-Szenerie, miteinander verschmelzen. Die angerosteten Wände lassen sich für beide Spielstätten nutzen und die Liegen der Touristen mutieren im Handumdrehen in KZ-Pritschen. Die Freizeit-Kleidung der Urlauber lässt sich rasch mit Häftlings-Kitteln tauschen. Und die Personen führt Baron intensiv ohne klischeehafte Übertreibungen. Lisa lässt es als Aufseherin zwar nicht an Selbstbewusstsein vermissen, zeigt aber auch menschliche und unsichere Seiten. Marta und ihre Leidensgenossinnen verlieren ihre Hoffnung nicht und präsentieren sich als starke Persönlichkeiten. Wobei die vielen Figuren individuell geformt und geführt werden.

Das Ensemble der Vereinigten Bühnen wuchs geradezu über sich hinaus. Eva Maria Günschmann beeindruckte mit einer ebenso stimmlich wie darstellerisch nuancierten Darstellung der Lisa. Sofia Poulopoulou als Marta gab ihrem Schmerz nachhaltigen Ausdruck, ohne in jammernde Verzweiflung zu verfallen. Ihr Schlussmonolog glühte vor Intensität. Die vielen kleineren Rollen waren exzellent besetzt. Ein schlagender Beweis für die von manchen Kulturpolitikern kaum wahrgenommene Tatsache, dass sich die Ensemblepflege unserer Theater künstlerisch auszahlt und als wichtiges Argument für den Erhalt unserer vielfältigen Theaterlandschaft ernstgenommen werden sollte.

Ob Sophie Witte als Yvette, Susanne Seefing als Krystina sowie Antonia Busse, Gabriela Kuhn, Bettina Schaeffer oder Kejti Karaj in weiteren Häftlings-Rollen: Ausfälle gab es nicht. Auch nicht bei den wenigen männlichen Rollen mit Jan Kristof Schliep als Lisas Gatte Walter und erst recht nicht bei Rafael Bruck mit seinem markanten, kultiviert geführten Tenor als Martas Verlobter Tadeusz. Auch der Chor und die Niederrheinischen Sinfonikern meistern ihre Aufgaben vorbildlich. Am Pult sicher und sängerfreundlich geleitet von Mikhel Kütson, der der Partitur erfreulich viele klangliche und atmosphärische Fassetten abgewinnt.

Das Premieren-Publikum im gut besuchten Krefelder Haus reagierte mit großer Begeisterung auf die Produktion, die ungewöhnlich viele überregionale Kritiker angezogen hat. Es wäre dem Haus zu wünschen, wenn auch die Krefelder Bürger in den Folgevorstellungen die Leistung mit entsprechenden Besucherzahlen würdigen würden. Zu wünschen wäre es den Vereinigten Bühnen allemal.

Pedro Obiera, 22. April 2025


Die Passagierin
Mieczysław Weinberg

Theater Krefeld

Premiere am 19. April 2025

Inszenierung: Dedi Baron
Musikalische Leitung: Mikhel Kütson
Niederrheinische Sinfoniker

Die nächsten Aufführungen im Theater Krefeld: am 1. und 23. Mai, am 13. und 22. Juni sowie am 2. Juli. Info: www.theater-kr-mg.de