CD: „Achille in Sciro“, Johann Friedrich Agricola

1875 konnte man in der Allgemeinen Deutschen Biographie, dem Personennachschlagewerk der Deutschen, folgendes über ihn lesen: „Da er von der modern italienischen Manier des Hasse und Graun völlig abhängig und überdieß weit schwächer an Erfindung war, reichten seine sonst correcte Satztechnik und manche angenehme Melodien nicht hin, selbst den besten unter seinen Tonwerken mehr als vorübergehende Anerkennung zu verschaffen.“ Ein Dreivierteljahrhundert später hieß es im Nachfolgewerk, der Neuen Deutschen Biographie, ganz ähnlich: „Seine Kompositionen, mit denen er eine ‚natürliche‘ Musik des Gefühls anstrebt, tragen keine sehr eigenen Züge und erreichen kaum den Durchschnitt der Berliner Schule.“ Und 2006 schrieb man schließlich für die Sächsische Biografie diese Zeilen nieder: „Die zur Vermählung des Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen mit Prinzessin Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel 1765 komponierte Oper Achille in Sciro brachte A. viel Ruhm ein. Doch schon die nächste Oper Amor e Psiche (1767), zur Hochzeit von Prinzessin Wilhelmine von Preußen verfasst, fand beim König kein Gefallen, wenngleich das Publikum diese Oper außerordentlich begeistert aufnahm. Auch seine letzte Oper Oreste e Pilade (1772) missfiel dem König, sodass A. sie als I greci in Tauride umarbeiten musste. Obschon A. als Komponist hohe Ziele verfolgte, trägt seine Musik kaum singuläre Züge.“

„Von der modern italienischen Manier des Hasse und Graun völlig abhängig – tragen keine sehr eigenen Züge – trägt seine Musik kaum singuläre Züge“ – die Aussagen sind gleichlautend, aber sie stimmen. Johann Friedrich Agricola blieb stets im Schatten selbst eines Carl Heinrich Graun, der im Zuge der Entdeckung und Wiederaufführungen der Opern der einst als „Alte Musik“ bezeichneten Musik eine kleine Renaissance erlebt hat (von einer Ersteinspielung einer seiner Opern wird hier demnächst die Rede sein).

Agricola: Das war selbst den schärfsten Kenner der „Barockopern“ bislang ein kaum bekannter Name. Mehr als eine schmale Biographie einer Dobitschener Heimatkundlerin wurde, soweit es seine Lebensgeschichte betrifft, in den letzten Jahren nicht publiziert. Obwohl er für den preußischen Hof 17 Bühnenwerke geschrieben hatte, ist er kein Thema für die Opernforscher. Er fand zuletzt 1922 einen Monographisten, doch ist Hermann Wucherpfennigs Berliner Dissertation Johann Friedrich Agricola. Sein Leben u. seine Werke in keiner Bibliothek vorhanden, weil sie seinerzeit nur maschinenschriftlich vorgelegt wurde. Selbst Sabine Henze-Döhring, die Kennerin der Musikkultur am Hof König Friedrichs II., bei dem Agricola seit 1750 arbeitete und seit 1758 als Dirigent der Kapelle unter Vertrag stand, weiß in Friedrich der Große. Musiker und Monarch (Berlin 2012) wenig mehr über Agricola zu sagen, als dass er „kein Graun und längst kein Hasse“ gewesen sei – und dass die Arien in Amor e Psiche (siehe oben) auf Geheiß des Königs ausgetauscht werden mussten.

Mit Agricolas Musik sieht es nicht wesentlich besser aus; selten genug, dass die eingespielten Kantaten des Mannes thematisiert werden, doch auch in meiner CD-Sammlung befindet sich seit vielen Jahren die Sammel-Edition Arien aus der Berliner Operngeschichte. Jochen Kowalski hat 1985/86 einige Stücke aus Berliner Barockopern eingespielt, wobei eine einzige Agricola-Arie den Schluss macht. Knapp sieben Minuten Opern-Agricola, das war bisher alles, was von Agricolas Bühnenschaffen auf Tonträgern zeugte. Der Name des 1720 in Dobitschen bei Altenburg geborenen Musikers hat sich eher durch sein theoretisches Werk einer aus dem Italienischen übersetzten und kommentierten Anleitung zur Singkunst verewigt – und durch jene Arie, die just jener Oper entnommen wurde, die nun, basierend auf einer Inszenierung im Theater Altenburg-Gera, 40 Jahre nach Kowalskis Pionier-Tätchen ihre CD-Premiere erlebte. Hätte man sie in Altenburg auch gespielt, wenn Agricola nicht aus der Gegend stammen würde? Wohl kaum, auch wenn die Meriten des Werks unüberhörbar sind und die Tatsache, dass die Kritik des selbst als Komponist dilettierenden Preußenkönigs, der Agricolas Werke als miserabel abtat, vielleicht eher für als gegen den Komponisten spricht. Denn mit unseren heutigen Ohren gehört, erweist sich Achille in Sciro als ein zwar nicht originelles, doch durch und durch angenehm zu hörendes Werk, ja: Mit einer empfindsamen Frauen-Arie und einem Lied des Titelhelden, unterbrochen und begleitet von einem Chor, sind Agricola durchaus ein paar Perlen aus dem Koffer gerutscht. Bereits sie hätten, bei allen Einschränkungen, die Gesamteinspielung gelohnt, abgesehen davon, dass die Kollektion der friderizanischen Hofoper gern noch diskographisch erweitert werden kann.

Wer sich für die Texte des Librettofürsten Pieto Metastasios interessiert, bekommt die Einspielung einer Oper in die Hände, deren Verse gut 30mal vertont worden sind: von 1736 (Antonio Caldara) bis 1825 (Pietro Antonio Coppola), aber die große Zeit des Achille in Sciro war bereits zur Zeit der Revolutionskriege vorbei. Zwischendurch haben Leonardo Leo, Jommelli, Hasse, Gassmann, Naumann, Anfossi, Paisiello und Gazzaniga, um nur die bekanntesten Namen zu nennen, sich des Buchs angenommen, doch bislang eingespielt wurden allein die Versionen Domenico Sarros und Francesco Corsellis. Nun also Agricola, die Fassung No. 19, uraufgeführt am Berliner Hof, wieder, wie schon 1736, als Festa teatrale, also als Hochzeitsoper, diesmal „zur Vermählung Ihro Königl. Hoheiten des Prinzen von Preussen, Neveu Sr. Majestät des Königs, mit der Durchlauchtigsten Prinzeßin Elisabeth Christine Ulrike von Braunschweig“. Der Anlass gebot es, keine Seria, sondern ein eher heiteres Stück auf die Bühne zu bringen – dies gelang in guten Maßen, denn hört man sich die „barocke Operette“ an (wie der Regisseur Laurence Dale das Werk bezeichnet), wird die Komik offensichtlich: Achill, vermummt als Pirra, muss sich sich auf Geheiß seiner Mutter Thetis als Transvestit verkleiden, um den Orakelspruch auszutricksen, demgemäß er vor Troja fallen werde. Er versteckt sich also auf Sciro, wo sich die Prinzessin Deidamia, die sein Geschlecht kennt (und liebt), in ihn verschaut – und er sich in sie. Grotesk wird es, wenn er nicht anders kann als seine ganze Männlichkeit herauszukehren, wenn er Eifersuchtsausbrüche (natürlich gibt es einen Nebenbuhler) erleidet und den auf der Insel eintreffenden Gefährten, unter ihnen der schlaue Ulisse / Odysseus, nicht verbergen kann, dass es ihn zu jenen Männertaten drängt, die noch bei Wagner im Tode enden werden. Allein von der Nachgeschichte weiß das Libretto nichts, wenn es auch die Zuschauer wussten. Der Schluss des festlichen Stücks ist, natürlich, ein lieto fine, das virilen Kriegsmut und zärtliche Paarung miteinander versöhnt, wenn finalmente der Hochzeitsgott Imeneo angerufen werden kann. Davor aber haben die Götter (und Menschen) den Schmerz gelegt. Wenn Deidamia in ihrer vorletzten Arie sich selbst beweint, sind wir im Zentrum des Seelendramas angekommen, von dem Agricola, mit allen konventionellen Mitteln seiner Zeit, einiges wusste. Durchaus nicht nebenbei: Gluck, dessen Werke und Ästhetik der Preußenkönig, nach dessen Flöte Agricola tanzen musste, verabscheute, hatte bereits drei Jahre zuvor seinen so ganz anders tönenden Orfeo uraufgeführt. Klingt dagegen auch Deidamias Non vedi, tiranno wie ein abgestandenes Stück der alten Oper, vermag der Ton der schmerzhaften Selbstversenkung doch zu ergreifen. Mag sein, dass Agricolas Muse „keine sehr eigenen Züge“ besaß – in den besten Momenten des Werks, von den beiden kurzweiligen Sinfonie, die den Prolog und einen Marsch umrahmen, über die bewegten Arien und ebenso vitalen Rezitative bis zum versöhnlichen Schluss, gibt es immer wieder, immerhin, unterhaltsam-ergreifende und mit deutlich hörbaren Fagotten und Hörnern gut instrumentierte Momente. Agricola schrieb neben den Secco-Rezitativen auch einige Accompagnati, die besonders im Fall der leidenden wie erregten Deidamia das Drama durchaus effektvoll vorantreiben – und das Philharmonische Orchester Altenburg Gera, bei dem man außer dem wieso auch immer abhanden gekommenen Bindestrich nichts vermisst, spielt unter der Leitung von Gerd Amelung, unterstützt von einer exzellenten Tontechnik (der Name muss genannt werden: Berthold von der Ohe), die orchestralen und dramatischen wie sensitiven Meriten der Komposition gut heraus. Das die Dacapi der Arien gekürzt wurden, ist aus verschiedenen Gründen kein Nachteil. Gekürzt wurden, zumindest im Textabdruck des Librettos im Büchelchen, auch einige Rezitative, während sich die Track-Zählung in der Mitte der ersten CD gegenüber den Informationen des Booklets jeweils um eine Nummer verschoben hat. Geschenkt! Denn dafür entschädigen einige schöne Farb-Fotos der Altenburger Produktion.

Freunde der älteren Stil-Art werden sich an den von den Sängern individuell mitgestalteten Koloraturen erfreuen, mit denen der Komponist selbst die Gleichnisarien der insgesamt 17 Solostücke reich verziert, ohne das Potential des Wortsinns und der Klangrede immer voll zu nutzen. Dass die Arien der Deidamia gelingen, liegt allerdings vor Allem an der Interpretin. Julia Gromball überzeugt vom ersten bis zum letzten Takt ihrer Partie durch Ausdruck und Stimmschönheit, erfühltem Pathos und Beherrschung aller Sopranmittel. Gleiches kann man leider weniger von den beiden Sopranisten behaupten: Angelo Giordano ist ein Achille, der seine Partie ungestüm und kontrolliert angeht, während beim Teagene des Nicolas Ziélinski, zumal in den heftigen Attacken auf die Spitzentöne, Letztere zu detonieren drohen. Dafür entschädigt ein gehöriges Maß an Personencharakterisierung: der Held als stolzer und gelegentlich weinerlicher huomo, sein Gegenspieler als vergeblicher Amant, schließlich als Freund des Helden, der sich im Kampf zwischen Pflicht und Neigung wie Herkules am Scheideweg und Scipio im Traumhimmel entscheidet: selbstverständlich für die von der Aufklärung gebotene Pflicht, mag sie auch in der Vernichtung enden. Aber das passiert ja erst nach dem Ende der festlichen Veranstaltung…

Der Nearco der Leila Grace Hills klingt passagenweise scharfrandig; schade, denn der Ausdruck, der affetto, ist auch bei ihr in der rechten Kehle. E l’arte qui superò sé stessa? Leider nicht immer. Dagegen erfreut der Counter Joel Vuik als Ulisse, wie der König Licomede des Jasper Sung, durch eine ausgesprochen geradlinig-ausgeglichene Stimmführung. Miriam Zubieta singt die kleinen Partien der Göttin Pallas Athene (im Prolog) und des Arcade; bei ihr bezaubert besonders die Arie Si varia in ciel talora, deren Siciliana-Rhythmus den Hörer angenehm einlullt. Der Opernchor des Theaters Altenburg Gera gibt einige Feier-Takte gut aufgelegt hinzu.

„Kaum singuläre Züge“… Der Regisseur zeigte sich begeistert von der „feinen, eleganten und wunderschönen Musik“, er war gerechter als die Herren Musikkritiker, die nie eine Oper des gescholtenen Kleinmeisters gehört hatten. Freunde der friderizianischen Hofoper und des Oper des Spätbarock werden, trotz der vokalen Einschränkungen, ihre Freude an der Studioaufnahme haben, die ihre Nähe zu den szenischen Aufführungen glücklicherweise nicht verhehlt.

Die Betonung liegt übrigens auf „Klein“ wie auf „Meister“, aber auch und gerade die Werke dieser maestri minore müssen mit besonderer Aufmerksamkeit realisiert werden. Mit dem Achille in Sciro gelang es, alles in Allem, gut, aber da es sich um die Ersteinspielung einer Oper von Johann Friedrich Agricola handelt, sollte man nicht päpstlicher als der Papst sein. Unterm Strich ist die CD-Premiere eine wertvolle Sache für die Freunde der auf dem deutschen Boden beheimateten italienischen Oper des mittleren 18. Jahrhunderts, wie gesagt: mit einigen wirklich schönen Nummern.

Wer fragt da schon nach musikhistorischer „Originalität“?

Frank Piontek, 17. Juni 2025


Johann Friedrich Agricola
Achille in Sciro

Philharmonisches Orchester Altenburg Gera

Rondeau Production