Lübeck: „Schostakowitsch, Symphonie Nr. 7“, Schleswig-Holstein Festival Orchester unter Michael Sanderling

Ist Dmitri Schostakowitschs 7. Symphonie, genannt die Leningrader, ein Beispiel platter Sowjet-Propaganda? War der Komponist vor dem Diktator Stalin eingeknickt und sein Werk nur noch instrumentalisierte Kunst im Dienst des Totalitarismus?
Gerade die Interpretation durch Michael Sanderling und das Schleswig-Holstein Festival Orchester am 9. August 2025 in der Lübecker Musik- und Kongreßhalle unterstrich eine vielschichtigere Lesart, die dem tatsächlichen Wesen der Symphonie umfänglich gerecht wurde.
Keine Geringere als Anna Achmatowa widmete der Leningrader ein Gedicht, das mit den Versen endet: „Als Partitur sich verstellend/kehrte die berühmte Leningrader/in ihren angestammten Äther zurück“. Die Dichterin begriff die Symphonie eher abgedreht-karnevalistisch, also keinesfalls ohne ironische Brechungen. In Assoziation an Bulgakows „Der Meister und Margarita“ verstand sie das Werk als Walpurgis-Hexenbesen, auf dem Schostakowitsch das umkämpfte, zerschossene, ausgehungerte Leningrad wie mit einem magischen Fluggerät verläßt.

So geheimnisvoll-romantisierend diese Phantasie sein mag, so hart ist der Hintergrund der Entstehung. Das von der Wehrmacht seit September 1941 belagerte Leningrad, in dem es später angeblich Fälle von Notkannibalismus gab, war nicht nur militärisch eine Festung. Der seit Kriegsbeginn glühende Patriot gewordene Schostakowitsch (Achtung – das macht ihn nicht zum Stalinknecht!) verkündete nach Beendigung der ersten beiden Sätze über Radio Leningrad: „Unsere Kunst ist in großer Gefahr. Wir werden unsere Musik verteidigen.“ Es ging um alles, um den Kampf um das blanke Leben, die eigene Freiheit und Kultur. Drei Orchestermitglieder waren vor der Uraufführung verhungert.

Unmittelbar danach schrieb das Time Magazine: „Inmitten detonierender Bomben hörte er in Leningrad die Siegesakkorde“. Ja, diese Symphonie ist von nie gehörtem Trotz, Optimismus und Beschwörung des Triumphes geprägt, aber sie hat eben auch sehr leise und gebrochene Töne.

Das Lübecker Konzert fand am 50. Todestag des großen Komponisten statt, der 9. August 1942 war auch der Tag der Erstaufführung in Leningrad selbst. Für die Uraufführung im März hatte man das sibirische Kuibyschew gewählt. Einen Monat vor seinem Tod 1975 vollendete er mit letzter Kraft seinen Abschiedsgesang, die Bratschensonate. Ein Hinweis auf ein Abschiedsthema findet sich allerdings auch in der Leningradskaja, und zwar im zweiten Satz.

Zuvor aber eröffnet der Kopfsatz das Gemälde harmonischen, ja idyllischen Lebens; auch hier schon tönt die trotzige, stolze Grundhaltung des Werks hindurch, bevor ein sanftes Trommeln, das stark an Ravels „Bolero“ gemahnt, das Invasionsthema beginnt. Diese Trommel wirkt weder irgendwie deutsch noch überhaupt bedrohlich militärisch, es wird zudem die Melodie „Heut geh ich ins Maxim“ aus Lehars „Lustiger Witwe“ (Hitlers Lieblingsoperette) zitiert. Sergei Eisenstein sah hier eine Nähe zu Dostojewskijs Roman „Dämonen“, in dem die Marseillaise mit dem Lied vom „lieben Augustin“ kombiniert wird. Schostakowitsch liebte und verehrte Gustav Mahler, und so gemahnt dieser fast satirisch wirkende Trommelzug an die vielen, oft ironisch verwendeten Militärmusik-Zitate des mährischen Kollegen. Alex Ross nennt das einen „Rattenfängermarsch“ und eine „Schelmenprozession“. Das immer stärker werdende Crescendo erhebt sich zu echter Größe, immer aber mit dem Gedanken an den augenzwinkernden Beginn. Dies zum Thema „Propagandamusik“.

Michael Sanderling / © Vera Hartmann

Das Schleswig-Holstein Festival Orchester unter Michael Sanderling vermag gerade die ganz feinen, unfaßbar zarten Pianissimo-Stellen mit sanftester Delikatesse umzusetzen. Dynamisch ist dieses Konzert ohnehin eine Offenbarung, denn das sehr klare, oft stark reduzierte, aber ungemein feinsinnige Dirigat widmet sich besonders den eher verhaltenen, lauernden Partien. Später wird Sanderling, gemäß der Partitur, weit mehr aus sich herausgehen, aber auch er muß sich in diesem mächtigen Werk die Kräfte einteilen.

Niemand in diesem wundervollen Orchester mit seinen exzellenten Solisten und Instrumentengruppen – der Streicher-Unisono-Klang ist makellos! – ist über 26 Jahre alt. Und diese jungen Leute spielen diese Musik so voll tiefen Verständnisses und mit ebensoviel Ernst wie echter Freude. Ganz großes Kompliment!

Eingedenk dessen, sich wieder dem Vorwurf der Publikumsschelte auszusetzen – aber diese großartige Symphonie an denkwürdigem Jahrestag und ihre Ausführenden haben nicht verdient, daß ebendiese leisen, feinen Stellen durch beständiges, überlautes Husten mehr als beschädigt werden. Kann man sich denn nicht etwas mehr zurücknehmen, rechtzeitig zwischen den Sätzen ein Hustenbonbon auspacken oder einfach etwas zurückhaltender keuchen? Über Baseballmützen und kurze Campingplatzhosen wird hier einfach mal hinweggegangen. Das Klatschen zwischen Satz 1 und 2 wird von mehreren Stimmen aus dem Publikum mit „oh nein!“ quittiert. Zudem war fast durchweg ein leises Störgerät aus Richtung der Bühne zu vernehmen.

Im zweiten Satz intonieren die hohen Streicher wieder ein synkopiertes Trommelmotiv, ähnlich dem aus dem ersten Satz. Hier ist die Nähe zu Mahlers Lied von der Erde greifbar, und zwar zum beschließenden „Abschied“, bevor die musikalische Sprache jäh ins Schrille und Harte wechselt.

Das Beklagen von Leid und Verletzung prägt die Düsternis des dritten Satzes. Schostakowitsch bemerkte Jahre später, daß es ihm hierbei nicht primär um die Opfer des deutschen Faschismus ging, sondern um „alle Formen des Terrors, der Sklaverei, der geistigen Unterdrückung“. Davon gab es im Stalin-Reich mehr als genug und jeder der Schostakowitsch kannte, wußte, in welchen Schichten er hier dachte und komponierte.
Die DDR-Musikliteratur der mittleren 70er Jahre war allerdings noch geprägt durch völlig ungebrochene Kritiklosigkeit gegenüber dem „Großen Bruder“. Im von Hansjürgen Schaefer herausgegebenen „Konzertbuch“ von 1974 wird bei der Beschreibung der Leningrader der „Kampf um das sowjetische Land“ und der „heroische Widerstand“ beschworen. Von Stalins Terror wußte jeder, mußte aber schweigen, auch noch Jahrzehnte nach dem Tod des Diktators.

Der Finalsatz entrollt sich langsam aus dem suchenden Tappen in Trümmern und einer zumindest in diesem Werk nur temporären Angegriffenheit mit dem Mut der Verzweiflung. Die Streicher wirken wie Umherirrende, die allmählich durch Nebel oder Qualm zu sich selbst zurückzufinden, um sich immer mehr zu behaupten und zu einem bejahenden Duktus zu finden. Aus dem harten Schnalzen der Saiten auf den Griffbrettern entwickeln sich entschiedenere, hoffnungsvollere Töne.
Holz- und Blechbläser nehmen mit Wärme und energischer Entschiedenheit diese Haltung auf, der beschriebene Trotz ragt in feierlichem Ton immer mehr empor, um sich dann zu einer strahlenden Größe zu erheben. Ja, es geht ums Durchhalten, ums physische Überleben, aber eben auch um den Kampf um das eigene Schaffen. Und bei aller Programmatik bleibt Schostakowitsch stets auch Autobiograph, damit sich selbst treu.

© Andreas Ströbl

Als die letzten, goldglänzenden Töne verhallen, setzt langer, sehr lauter Jubel ein. Was für ein phantastisches Konzert im Andenken des großen Tonsetzers Dmitri Schostakowitsch!

Andreas Ströbl, 10. August 2025


Dmitri Schostakowitsch: Symphonie Nr. 7 C-Dur op. 60 „Leningrader“

Lübeck, Musik- und Kongreßhalle
Konzert im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals

9. August 2025

Musikalische Leitung: Michael Sanderling
Schleswig-Holstein Festival Orchester