Auch in diesem Jahr haben wir unsere Kritiker wieder gebeten, eine persönliche Bilanz zur zurückliegenden Saison zu ziehen. Wieder gilt: Ein „Opernhaus des Jahres“ können wir nicht küren. Unsere Kritiker kommen zwar viel herum. Aber den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Musiktheater im deutschsprachigen Raum zu haben, wird keine Einzelperson erheben können. Die meisten unserer Kritiker haben regionale Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich oft sämtliche Produktionen eines Opernhauses ansehen. Daher sind sie in der Lage, eine seriöse, aber natürlich höchst subjektive Saisonbilanz für eine Region oder ein bestimmtes Haus zu ziehen.
Nach dem Theater Aachen blicken wir heute auf das Stadttheater Gießen.

Beste Produktion (Gesamtleistung):
Der Troubadour: Eine notorisch „unverständliche“ Opernhandlung wird nachvollziehbar und spannend auf die Bühne gebracht. Musikalisch hat das kleine Stadttheater wieder gezeigt, daß es mit seinen Stammkräften und unter Heranziehung lediglich eines fulminanten Gastes in der Lage ist, selbst die großen Opernreißer musikalisch adäquat zu realisieren.
Größte Enttäuschung:
Nur eine kleine Enttäuschung: Die statische Inszenierung zu Moses in Ägypten. Der Regie ist wenig eingefallen, um die oratorienhaften Elemente dieser Oper zu beleben.
Entdeckung des Jahres:
Ich, ich, ich!: Ein hinreißend gespieltes und fabelhaft musiziertes Pointenfeuerwerk, das in 90 dichten Minuten zum kurzweiligsten gehört, was man seit langem auf einer Opernbühne präsentiert bekommen hat.
Beste Leistung in einer Hauptpartie (Ensemble)
Grga Peroš verabschiedet sich mit dem Grafen Luna aus dem Ensemble und demonstriert noch einmal, daß er ein geradezu idealer Verdi-Bariton ist.
Julia Araújo glänzt neben ihm als Leonora. Sie bleibt dem Ensemble erhalten.
Beste Leistung in einer Hauptpartie (Gast)
Julia Rutigliano überzeugt als Azucena. Ihr glutvoller Mezzo verfügt über eine leidenschaftlich lodernde Höhe ebenso wie über eine sonore Tiefe. Die Rolle hat sie sich vollständig einverleibt, durchlebt und durchleidet die Gefühlszustände dieser tragischen Figur von der liebenden Mutter bis zur mißhandelten Gefangenen.
Beste Leistung in einer Nebenrolle (Ensemblemitglied):
Der Erzkomödiant Tomi Wendt als vermeintlicher Arzt in Ich, ich, ich! und als Throttlebottom in Wintergreen for President!, wo er Clarke Ruth als (übrigens überzeugendem) Titelhelden ein wenig die Show stiehlt.
Nachwuchssänger des Jahres:
Ferdinand Keller, der in Ich, ich, ich! in immer neue Rollen schlüpfen und dabei auch die Wandelbarkeit seiner Stimme demonstrieren durfte.
Bestes Dirigat:
Vladimir Yaskorski, der bei Moses in Ägypten mit einem gut aufgelegten Orchester und einem auf den Punkt vorbereiteten Chor dafür gesorgt hat, daß die Musik stärkeren Eindruck gemacht hat als die Szene.
Beste Regie:
Ute M. Engelhardt hat bei Ich, ich, ich! mit leichter Hand ein perfekt getimtes szenisches Pointenfeuerwerk gezündet, welches den Humor der Vorlage kongenial umsetzt.
Beste Chorleistung:
Der Einsatz in Wintergreen for President!. Neben Mitglieder des Theaterensembles schlüpfen auch Choristen in die zahlreichen Nebenrollen und genießen singend und tanzend den spritzigen Humor der Texte und den vom Orchester unter der Leitung von Vladimir Yaskorski mit unwiderstehlichem Drive umgesetzten symphonischen Jazz-Sound Gershwins.
Größtes Ärgernis:
In der zurückliegenden Saison gab es für den Kritiker kein großes Ärgernis.
Die Bilanz zog Michael Demel.