Bereits im vergangenen Jahr hatte uns Daniele Gatti ins Grübeln gebracht, als er seine erste Saison als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle mit Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ eröffnete. Der Verlauf der Saison bestätigte uns die Richtigkeit seiner Wahl.
Gattis Weiterführung des Mahler-Zyklus mit dem „neuen Orchester“ begann beim Saisonbeginn am 31. August 2025 in der Matinee des 1. Symphoniekonzerts mit dem „Requiem“ für Streichorchester von Tōru Takemitsu (1930-1996) gleichfalls mit einem für das Konzertjahr wegweisendem Werk. In Tokio geboren, durchlebte Takemitsu in den jungen Lebensjahren alle Schrecknisse des fernöstlichen zweiten Weltkrieges einschließlich seines Einzugs zum Wehrdienst in die kaiserliche Armee. Verbunden mit einer längeren Erkrankung führten diese Erfahrungen bei dem größtenteils autodidaktischen Musiker und Komponisten zu einer Distanzierung gegenüber allem Japanischen. Vor allem ließ er sich in dieser Zeit von der westlichen klassischen Musik inspirieren, nahm aber auch Ideen der der elektronischen Musik auf.
Zumindest im demilitarisierten Japan gab es in den 1950-er Jahren die Hoffnung, dass Interessenkonflikte in der zivilisierten Welt künftig ohne kriegerische Auseinandersetzungen gelöst werden könnten. Für den jungen Komponisten Tōru Takemitsu war seine Hoffnung auf eine friedliche Welt die Veranlassung, im Gedenken an die Opfer kriegerischer Gewalt, gleich welcher Art, ein „Requiem für Streicher“ zuschreiben und 1957 zur Aufführung zu bringen.
Leider entwickelte sich die Weltlage nach dem zweiten Weltkrieg zu einem bi-polarem System und auch die Chancen der Zeit um das Jahr 1990 wurden vertan, so dass in unserer Zeit die Spannungen zwischen und innerhalb der Nationen extrem zunehmen. Gerade deshalb sind gegenwärtig die Erinnerungen an die ästhetischen Werte des Tōru Takemitsu für die gesamte Menschheit notwendig, um die Erinnerungen an die Schrecknisse der Kriege und den Wunsch nach dauerhaften, umfassenden Frieden wach zu halten.
Obwohl die Tonalität und Orchestrierung des Werkes massiv an die westeuropäische Musikkultur erinnert, war es die Atmosphäre, das Gefühl von Statik sowie Sprachlosigkeit, die dem traditionellen japanischen ästhetischen Bewusstsein entspricht. Beeindruckend, wie Takemitsu die fernöstliche Mentalität mit der westlichen Orchestrierung zu verbinden vermag.

Gattis Interpretation mit der Sächsischen Staatskapelle bediente auf das Sensibelste gleichermaßen die westlichen als auch die traditionellen japanischen Aspekte der Musik und betonte Takemitsus Hauptthemen, dass das Leben Teil des Todes ist und der Tod Teil des Lebens bleibt. Nur so konnten die Konzertbesucher die Ungewissheit ihrer Zukunft erahnen.
Das Dirigat wurde der besonderen Struktur des Stückes gerecht, das mit leisen Streicherklängen beginnend, eine sich zunehmende Dynamik entwickelte und Dissonanzen und Harmonien gekonnt verwoben. So entfalteten sich zugleich hohle als auch dichte Klangbilder. In schnellerem Tempo und raschen Wechsel der Tempi verdeutlichte Gatti in der Folge die Auseinandersetzungen von Streit und Versöhnung. Bis er zum Abschluss die Streicher der Staatskapelle die Schönheiten der Traurigkeit ausspielen ließ.
Für uns blieb eine zeitlose Botschaft der Hoffnung.
Die Bedingungen für den Komponier-Urlaub des Musikdirektors der Wiener Hofoper Gustav Mahler (1860-1911) im Jahre 1901 muteten nach der Schaffung des Sommersitzes Maiernigg und dem Aufbau einer Beziehung zu der deutlich jüngeren Alma Schindler (1879-1964) optimal an. Die Überwindung der gesundheitlichen Probleme des Frühjahres sowie die Belastungen und Kränkungen seiner vierten Saison als Musikdirektor wurden mit der Beschäftigung mit Werken Johann Sebastian Bachs (1685-1750) und den Liedern Robert Schumanns (1810-1856) recht schnell überwunden, so dass sich Mahler seinem kompositorischen „Ferien-Schaffen“ widmen konnte. Zwischen Lesen, Spazierengehen und Kahnfahren entwickelte er eine für ihn neue Arbeitstechnik, indem er alles was ihm einfiel oder beeindruckte, aufschrieb. Im Zusammenhang mit dem Liedschaffen der Schumanns gelangte Mahler zu den raffinierten Wort- und Sinnkonstruktionen des Dichters Friedrich Rückert (1788-1866). Neben den Eheleuten Schumann hatten sich unter anderen auch Johannes Brahms (1833-1897), Carl Loewe (1796-1869) und Fanny Mendelssohn (1805-1847) des umfangreichen Gedichte-Schaffens des Sprachengenies und Begründers der deutschen Orientalistik Rückert bedient. Der hochromantische Mahler wählte die Texte aus Rückerts Gedichte-Fülle offenbar stimmungsabhängig und auch sporadisch aus und reicherte sie mit seinen scheinbar einfachen Melodielinien an. Die fünf Rückert-Lieder bilden lediglich eine Sammlung und keinen Zyklus. Das Verbindente der Kompositionen ist lediglich, dass die Vorlagen von demselben Dichter stammten. Mahlers Liedkompositionen sind zeitlich schwer zuzuordnen. Sie sind grundsätzlich als Klavierfassungen mit Gesang entstanden und wurden erst später instrumentiert.
Die prachtvolle Altstimme der der franko-kanadischen Sängerin Marie-Nicole Lemieux schien für Mahlers „Lieder nach Texten von Friedrich Rückert“ wie geschaffen, wenn sie mit dem eröffnendem Lied ihre makellose Virtuosität mit ihrem Sinn für Dramatik und Nuancen einsetzte. Weiche Streicher und hochsensible Hörner begleiteten die Sängerin. Das Lied „Liebst du um Schönheit“ war die in der Entstehung letzte Komposition der Sammlung. Von Mahler erst im August 1903 ausschließlich in der Klavierfassung vorgelegt, wurde die Orchestrierung im Jahre 1907 vom Gewandhauskapellmeister Max Puttmann (1864-1935) vorgenommen. Mit dem Scherzo „Blicke mir nicht in die Lieder“ bewies sie ihr besonderes Gespür für Linienführung. Ihre Interpretation des „Ich atmet‘ einen linden Duft“ erfasste auf das Vortrefflichste Mahlers Gefühl des ersten Sommers in der eigenen Villa am Wörthersee und ließ einen imaginären Hauch spüren.

Unvermeidlich war das „Ich bin der Welt abhandengekommen“ in der Sammlung. Der 32-jährige Rückert hatte sich 1821 in seine späteren Frau Luise Wiethaus-Fischer (1797-1857) unsterblich verliebt und ihr einen Heiratsantrag geschrieben. Nun wartete er verzweifelt auf eine positive Antwort. Damit war das eigentlich ein Liebesgedicht, in dem der Abhandengekommene der 32-jährige Rückert war, der ob seiner Verliebtheit der Umwelt entrückt weilte. Für Gustav Mahler reichte als Basis seiner Komposition die erste, dramatisch klingende Zeile des Gedichtes. Die folgenden Verse mit ihren grandios verwobenen Worten, die alle Hoffnungen, Ängste und Zweifel Rückerts enthielten, ob ihn doch Luise erhören werde, nutzte Mahler mit ihrem Rhythmus lediglich, um seiner Musik zur Wirkung zu verhelfen. Die vorherrschende Aufführungspraxis zementiert Mahlers Auffassung und betont die Dramatik seiner Bearbeitung. Gehäuft setzen Programmplaner das frühere Liebeslied deshalb als Finale der Rückert-Lieder-Darbietung.
Mit subtilen Schattierungen, ohne den berückenden Weltenschmerz, formte Marie-Nicole Lemieux wunderbar weich das Lied. Brillante Instrumentalisten der Staatskapelle ließen dazu einen prachtvollen Klangteppich aufleuchten.
Mit dem umfangreichen „Um Mitternacht“ nahm uns Marie-Nicole Lemieux auf eine tiefgreifende Seelenreise des Komponisten mit, indem sie die mehrfachen Wiederholungen von Phrasen und Mustern nutzte, ihre Zuhörer immer tiefer an Mahlers spirituelle Grenzen zu führen. Die tiefschwarzen Blechbläserfarben gaben Daniele Gatti die Möglichkeit, die vergebliche Trostsuche, die nächtliche Unruhe und das Frösteln in einer außergewöhnlichen Orchesterbegleitung fühlbar zu gestalten.
Bereits im Oktober diesen Jahres werden wir Marie-Nicole Lemieux in der neuen Inszenierung von Giuseppe Verdis „Falstaff“ in der Rolle der Frau Quickly erleben können.
Im zweiten Konzert-Teil folgte Gustav Mahlers Symphonie Nr. 5 cis-Moll:
Während Mahler sich sporadisch mit der Vertonung der Texte Rückerts und einiger Wunderhornlieder beschäftigte, nahm auch das Projekt einer neuen Symphonie Gestalt an. Aus Aufzeichnungen vom Sommer 1899 gestaltete er als Grundstock des Vorhabens ein Scherzo für die Fünfte mit einer bisher von ihm nicht bekannten Hinwendung zur Polyphonie. Mit einem dichteren Geflecht der Einzelstimmen knüpfte Mahler unmittelbar an seine Beschäftigung mit dem Nachlass Johann Sebastian Bachs an. Auch wollte er eine Symphonie, die ohne Gesangsstimme auskommen sollte, schaffen.
Dem Scherzo folgte noch im Sommer 1901 die Komposition zweier Sätze mit gehäuft Dissonanzen und Ausreizungen des tonal möglichen, ohne die Tonalität aufzugeben. Beide hatten durchaus das Zeug zu Kopfsätzen der neuen Symphonie.
Mahler und Alma heirateten am 9. März 1902 und der Ehemann schrieb seiner jungen Frau als eine wortlose Liebeserklärung ein Adagietto, das er als vierten Satz in sein Symphonieprojekt übernahm. Nach dieser elegischen Musik von Streichern und Harfen konnte der Finalsatz eine Abgrenzung nur im Rausch eines Rondos schaffen.
Mit seiner 1903 vorgenommenen Instrumentierung war Mahler überhaupt nicht zufrieden. Er musste erkennen, dass seine veränderte Behandlung des Orchesters auch eine angepasste Instrumentierung erforderte, die sich ihm noch nicht erschlossen hatte. Folglich überarbeitete er im Jahre 1904 die Instrumentation, änderte in der Folge mehrfach an dieser Fassung, so noch bis kurz vor seinem Tode. Diese erst 1964 im Druck erschienende Bearbeitung hörten wir in der Matinee.

Als Gastdirigent der Staatskapelle hatte Daniele Gatti bereits im September 2019 eine geschlossene Aufführung von Gustav Mahlers fünfter Symphonie vorgestellt, so dass es schwer fällt, Unterschiede herauszuarbeiten. Aber inzwischen sind die Zeitläufte an den Beteiligten nicht spurlos vorüber gegangen und der Dirigent ist mit den Musikern der Staatskapelle richtig zusammengewachsen. Mahlers ungewöhnliche Satzanordnung, den Trauermarsch als Kopfsatz spielen zu lassen, wirkte mit Gattis Dirigat nicht gehetzt, aber auch nicht mehr im gemessenen Schritt. Seine emotionale und direkte Leitung des Orchesters ließen den Tod und die Leere scheinbar dominieren. Abschnitte, die in Aufführungen oft chaotisch wirkten, klangen bei Gatti rhythmisch klar und durchsichtig, erhielten so einen Sinn.
Die Ausdeutung des zweiten Satzes ließ dank der differenzierten Tempi-Wahl in die Sphären der menschlichen Abgründe blicken. Der langsame Teil des Satzes war deshalb keine heitere Szene in der Natur, sondern eine zum Teil schmerzhafte Reminiszenz an die Trauer des ersten Satzes, obwohl klangschön und transparent musiziert wurde.
Das zentrale Scherzo wechselte derb und ohne Kompromisse zwischen Walzer und Totentanz. Gattis Dirigat erzeugte eine Atmosphäre der Bewegung und des Grotesken der Parodie bis der Satz mit einer betrunkenen Fahrt im völligen Chaos endete.
Mit seiner nicht zu langsamen Tempogestaltung schuf Gatti ein emotionales Adagietto voller Intimität und Wärme.
Umso deutlicher und energischer setzte er das abschließende Rondo-Finale vom langsamen Satz ab, vermied aber, das Finale zu einem siegesgewissen Triumph zuführen.
Mit ihrer Interpretation der fünften Symphonie gelang der Staatskapelle unter ihrem Chefdirigenten Mahlers Schritt vom homophoben zum eher polyphonen Orchesterklang mit einer seltenen Konsequenz darzubieten und die Offenheit der musikalischen Verflechtung hörbar zu gestalten.
Im Anschluss an das Konzert überreichte die Stiftung Semperoper den nach ihrem Stifter und Gründer benannten „Rudi-Häusler-Preis“ an die Sächsische Staatskapelle für ihre herausragende künstlerische Qualität und Vielfalt.
Thomas Thielemann, 1. September 2025
Tōru Takemitsu: Requiem für Streichorchester
Gustav Mahler: Lieder nach Texten von Friedrich Rückert
Gustav Mahler: Symphonie Nr. 5 cis-Moll
Matinee der Saisoneröffnung 2025/2026 der Staatskapelle Dresden
31. August 2025 in der Semperoper
Solistin: Marie-Nicole Lemieux, Alt
Dirigent: Daniele Gatti
Sächsische Staatskapelle Dresden