Schade, dass Thomas Mann, bei aller Informiertheit, die Werke eines Monteverdi und Cavalli nicht kannte. Gut möglich, dass er im Grammophon-Kapitel des Zauberbergs auch den Erfindern der Oper ein paar Absätze eingeräumt hätte (um Liebe und Tod geht es in der geliebten Gattung ja seit je) – und einem Sänger, der, wäre er 1900 auf einer Platte verewigt worden, sicher schon damals erfolgreich gewesen wäre.

Carlo Vistoli, so heißt er, begleitet wird er von der Capella Mediterranea unter der Leitung von Leonardo Garcia-Alarcón. Zusammen gestalten sie den zweiten Abend des Festivals Bayreuth Baroque 2025, das der frühen venezianischen Oper gewidmet ist, Schwerpunkt: Francesco Cavalli. Und also beginnt es mit einem tänzerischen Stück (von Cavalli) und endet mit einer zweiten wundersamen Zugabe. Der zwischen der Spätrenaissance und dem Frühbarock – falls man an derlei musikwissenschaftlichen Schubladen interessiert ist – feiert Triumphe: im heimelig ausgeleuchteten Bühnenbild der Cavalli-Oper Pompeo Magno, die am Vorabend ihre Premiere erlebte. Mit der Sinfonia zum dritten Akt des Eliogabalo hebt das Programm an, bevor der Countertenor in einem mild lagrimosen Ton seine erste Klage anstimmt: „Ohimè, che miro“ aus Gli amori di Apollo e Dafne ist mit der geläufigen Gurgel Carlos Vistolis ein Paradestück von Lamento, das uns sofort über die Vielzahl der Formen informiert, die Übergänge zwischen Rezitativ und Arie und Ariette, die das frühe Musikdrama auszeichnen. Vistoli stehen alle Mittel der tönenden Versinnbildlichung zur Verfügung, um in den nächsten zwei Stunden den Leiden, Hoffnungen und Freuden all der Xerxes’ (dessen Cavallisches „Omra mai fu“ völlig anders als das Händelsche, weil freudig erregt klingt) und all der Giasones und Ottones Ausdruck zu geben. Mit seinem schier überfliegenden, weich timbrierten Counter bildet er zusammen mit der aus elf Musikern bestehenden und ihrerseits oft weich timbrierenden Capelle ein Dreamteam der Klangerzeugung. Doch können sie auch anders. Spielen sie die, wie gesagt, tänzerischen Sinfonias aus Cavallis Opern oder gar ausdrückliche Tänze – Santiago de Murcias und Diego Fernández de Huetes La Tarantela klingt beifallprovozierend in den Raum -, wird das Arien- und Tanzprogramm zur Jam Session; schade, dass man nicht mithotten kann. Der Flötist Rodrigo Calveyra, die erste Violinistin Alfia Bakieva, die Basslautenistin Mónica Pustilnik: sie müssen stellvertretend für das sich in den schönsten Harmonien und Dissonanzen ergehende Ensemble genannt werden, dem Alarcón als Cembalist und Organist buchstäblich vorsteht. Nebenbei: Die Aufteilung in instrumentale Gruppen und Farben gelingt stets überraschend – und zwingend.
So bietet der Abend wirklich alles: tiefes Sentiment, eine bisweilen groteske Mischung von Ernst und Komik. Eroicomico, mit diesem Mischbegriff wurde die disparate Welt der operettenhaften Opern umrissen, in denen man, wenn sich die Helden nicht gerade aussangen wie der in der Trompeterloge vor sich hin schmachtende Ottone aus Monteverdis Poppea, auch mal Scherze über Kastraten riss und Lieder von der Straße sang. Der geniale Alessandro Stradella schrieb schließlich mit dem Trespolo tutore eine Komödie auf einen Liebesnarren – und gleichzeitig eine Tragikomödie, die zumal von Vistoli bewegend zum Leben erweckt wird. So öffnet, durch die Kunst des Sängers wie der singenden Musiker, auch dieser Abend die weite Welt der frühen Oper, die nicht auf einen Begriff zu bringen ist – außer den der absoluten Schönheit. Dazu aber bedarf es immer wieder Musiker, die ihr Handwerk verstehen, um die andeutenden Notendrucke der Vergangenheit mit Verve in die Gegenwart zu bringen. An diesem Abend ist es, nicht zuletzt dank eines Vokalisten, dem man bis zuletzt gern zuhörte, ohrenschmeichelnd und herzerweichend gelungen. Wie es schon im Zauberberg auf die Formel gebracht wird: Fülle des Wohllauts.
Frank Piontek, 6. September 2025
Opera Antica
Bayreuth Baroque
Markgräfliches Opernhaus
5. September 2025
Carlo Vistoli und Capella Mediterranea
Dirigat: Leonardo Garcia-Alarcón