Bayreuth: „Pompeo Magno“, Francesco Cavalli

Carneval! Das Wort fällt einem ein, sobald der erste Takt erklungen ist.

Natürlich Carneval – denn Francesco Cavalli hat seine Opernkarriere im Venedig des 17. Jahrhunderts begonnen: als höchst gelehriger und sich von ihm emanzipierender Schüler des Claudio divino, also des göttlichen Claudio Monteverdi. „Wahrlich hat Francesco Cavalli nicht seinesgleichen in Italien“. Dies war nicht allein die Meinung Zuanne Zittios, die er in seinem Buch Le cose notabili, et maravigliose della città di Venezia im Jahre 1662 notierte, um sie der Nachwelt zur Prüfung zu überlassen. Zwar fügte er noch an, dass Cavalli „weder in seinem ausgezeichneten Gesang noch in seinem edlen Orgelspiel“ übertroffen werden könne, aber der Satz hat seine Gültigkeit bewahrt, sofern er nicht nur die vergänglichen Talente, sondern auch die unvergänglichen Werke des italienischen Meisters inbegriff. Tatsächlich hat sich von keinem der großen Opernkomponisten des frühen 17. Jahrhunderts soviel erhalten wie von Cavalli. Ein Glücksfall, denn von Monteverdi, dem man im Wettbewerb um den „bedeutendsten“ Opernkomponisten der Epoche die Krone reichen würde, sind zwar viele Opern bezeugt, doch nur drei vollständig überliefert. Anders sieht es im Falle Cavallis aus: nicht weniger als 27 (oder 28) der rund 40 bezeugten Opern haben sich in Partituren erhalten, weil der Meister selbst für deren Überlieferung sorgte. Allein die Zahl wäre bedeutungslos, würden sich mit ihr nicht zugleich Qualitäten verbinden, die die Aufführungen dieser Werke bis heute interessant machen. Cavalli wird seit den 70er Jahren wiederentdeckt; im Zuge der Rekonstruktionen der Opern jener Zeit kümmert man sich auch um einzelne Werk des Venezianers. Seitdem seine Rosinda beim Festival Bayreuther Barock im Markgräflichen Opernhaus gespielt worden ist – das war 2008, also vor 17 Jahren -, hat sich eine Menge in Sachen Cavalli getan: auch jenseits der allseits beliebten Callisto, die es bis auf die Bühne des bayerischen Nationaltheaters geschafft hat. Cavalli ist inzwischen kein Unbekannter mehr, man muss sich nur einmal einen Nachmittag lang durch Youtube klicken, um die schönsten Werke zu hören – und zu sehen.

© Clemens Manser Photography

In Bayreuth hat man das Festivalprogramm nun sehr gezielt um den venezianischen und international wirkenden Großmeister der ersten Generation nach Monteverdi organisiert, um der frühen, bereits bürgerlich gewordenen Gattung ihre Reverenz zu erweisen. Mit Pompeo Magno grub die Festivalleitung ein Werk aus den Tiefen der Archive aus, von dem bislang nur einzelne Arien eingespielt worden waren: ein Teil eines ab 1665 komponierten, insgesamt erfolglosen Römer-Fünfteiler, bestehend aus Scipione africano, Mutio Scevola, Eliogabalo, Coriolan – und der Oper über Gnaeus Pompeius Magnus, die am 20. Februar 1666 im Teatro S. Salvatore, also einem noch bestehenden Theater, dem heutigen Teatro Goldoni, ihre Uraufführung erlebte. Rom war damals, in der Serenissima, der „Biberrepublik“, wie Goethe sie später nannte, sehr nah, zumindest das republikanische. Der Librettist Nicòlo Minato hatte ein Faible für die antike Geschichte, vor allem dann, wenn die militärische und moralische Größe des vorkaiserzeitlichen Helden problemlos für eine moderne Bühne adaptiert werden konnte. Und also sehen wir in Bayreuth auf eine Szene, die das Venedig der späten Renaissance und des frühen Barock lustvoll zitiert, um es zum Spielort des Dramas zu machen.

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Carneval? Carneval! In Cavalli vereinigten sich eine seinerzeit bereits kommerzialisierte Opernkultur mit dem Ingenium eines übersprudelnden Esprits. Spielt man heute eine Partitur des Komponisten, muss man sie allerdings, wie auch immer, einrichten. Die üblichen fünf Stimmen, die die Möglichkeiten eines notwendigerweise auf die Einnahmen schielenden Opernhauses berücksichtigten, können (nicht: müssen) heute erweitert werden; der Dirigent Leonardo Garcia-Alarcón und der Festspielleiter, -regisseur und -sänger Max Emanuel Cencic haben die Musik eingerichtet und das Orchester wesentlich erweitert. Nun klingt die Oper als musikalisch-optisches Gesamtkunstwerk prunkvoll in den Raum: mit 20 Instrumentalisten, Streichern, Bläsern, Schlagzeugern und einem auch modernen Instrumentarium, das an einigen passenden Stellen dafür sorgt, dass man aus der Wendezeit von Spätrenaissance und Frühbarock, die wir dem Werk deutlich anhören – einiges ist schön madrigalistisch, anderes bereits in einem stile nuovo der zweiten Jahrhunderthälfte geschrieben worden -, in die Gegenwart ausbricht. Wenn eine verrückte Alte ihre Weisheiten und Schlüpfrigkeiten zum Besten oder eine Columbina ihrer Freude Ausdruck gibt, hören wir Schlagerchansons aus dem Geist einer so zeitlosen wie unmittelbaren Gegenwart: rhythmisch federnd, farbig schillernd, perkussiv mitreißend.

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Was da erzählt wird, erscheint weniger wichtig als wie es erzählt wird. Man muss die zwei weitgehend unabhängig voneinander ablaufenden Familiendramen und Beziehungsgeschichten samt Liebesverzicht und -schmachten nicht nacherzählen können, um sich dem Spektakel und den innewohnenden Affekten hinzugeben. Zum wiederholten Male setzt Bayreuth Baroque nicht allein auf die Güte der musikalischen Interpretation, sondern auch auf faszinierende Schauwerte. Die Überwältigungsstrategie funktioniert auch im Fall des Pompeo Magno zur Zufriedenheit der Zuschauer, die am Ende fast auf den Stühlen stehen, um sich bei den Musikern, Sängern und Bühnenausstattern zu bedanken. Wir sehen also auf eine Bühne, wie sie zwar nicht in einem venezianischen Theater des 17. Jahrhunderts möglich, aber denkbar gewesen wäre. Den 17 Protagonisten hat Cencic eine Truppe von neun Kleinwüchsigen beigesellt, die, wundersam farbig gewandet, als seien sie einem Gemälde von Veronese oder Tiepolo entsprungen, all die „Ritter“ und „Pagen“ spielen, die sich dank der Kunst der Kostümbildnerin Corina Gramosteanu im seerepublikanischen Pompeo Magno zu Hoffräulein, Marktweibern und Pulcinellen verwandelt haben. Das geht oft derb zu, wie‘s eben bei den grob und tölpelhaft agierenden historischen Pulcinellen und den barocken Hofzwergen wie jenen des Salzburger Zwerglgartens ganz und gar Brauch war: so wie im zu Zoten aufgelegten plebejischen Operntheater des 17. Jahrhunderts. Man sieht also, pardon für die Alliterationen, kopulierende Kleinwüchsig und poppende Pulcinellen – man sieht auch auf die Figuren der Commedia dell’arte, deren Gestik überdeutlich auf das Offensichtliche eines kultivierten Maskentheaters zielt.

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Die von Pompeio begehrte Giulia ist eine Columbina, ihr Freund Servilio ein Arlecchino, man sieht einen Pantalone, einen Dottore, einen Pagliaccio, der schon viel vom späteren, verfeinerten französischen Gilles an sich hat, wie ihn Watteau verewigt hat. Man sieht vier prachtvoll rotgewandete Senatoren, die sich elegant um sich selbst drehen, man sieht den Titelhelden (der nicht die Hauptrolle spielt) als stolzen und goldverteilenden und verzweifelten Dogen, man Sesto, sieht einen jungen Mann, als Wiederkehr des schönen Don Juan d’Austria. Man sieht auf die Renaissancefassade eines sensibel ausgeleuchteten, wie im Abendlicht dahindämmernden Palazzo, der in einem langen dramatischen Notturno nur von den Handlampen der durch die Nacht irrenden Heldinnen und Helden illuminiert wird und immer wieder räumlich verändert wird; die Bühnentechnik ist auf dem Stand der Moderne. Cencic hat zusammen mit seiner Kostümbildnerin, dem Lichtmacher Léo Petrequin und dem Bühnenbildner Helmut Stürmer eine Welt geschaffen, in der sich die Opernmenschen sehr lustig – und sehr innig bewegen können. Denn Komik und (hochästhetisch gemachter) Klamauk, Humor und Witz der Kleinen und der Dienerschaft, auch einer überkandidelt verrückten Alten (natürlich gespielt von einem Countertenor) sind nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen herrscht eine Traurigkeit der Seelen und der erlittenen Qualen, auch der psychischen Grausamkeiten, die durchaus ernst zu nehmen sind und erst die Komik legitimieren. Es blitzt und es donnert – und man feiert zu Beginn jedes Akts ein Auftrittsfest, mit dem der Zuschauer immer wieder in die festliche Welt der Epoche hineingerissen wird. So gesehen, ist dieser Pompeio Magno auch ein Stück Aufklärungstheater über den Theaterzauber einer vergangenen Epoche, den man zugleich rekonstruiert und überhöht. Die Oper, das künstlichste aller Kunstwerke, erfährt in dieser Aufführung ihre Berechtigung, indem sie alle ihre Kunstmittel einer beglückenden Künstlichkeit nicht übersteigert, aber hochhält, zuletzt mit dem Auftritt eines geflügelten jnd eines ritterlichen Genius. Und das Haus spielt gleichsam mit, wenn die Trompeterlogen bespielt werden.

Dem nicht abreißenden Bildreichtum, der von intimen Monolog- und Duoszenen akzentuiert wird, kommt die Capella Mediterranea mit einer Fülle von Effekten, mit hohem, den Spielwitz befeuernden Tempo, mit größter Präzision in den vielen vielen Übergängen und einem enormen Farbreichtum, der Cavallis Kunst gleichsam vollendet. Denn jegliche Aufführung einer Oper des 17. Jahrhunderts besteht in der Ausdeutung einer relativ dürren Partitur, die erst in der Interpretation zu leben beginnt. Dass ein Fagott zum Auftritt des Cesare, Konsuls von Rom, also des Pantalone, herzhaft furzt: das war vielleicht schon anno 1666 der Fall…

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Über den Musikern, über deren Vollkommenheit, zumal bei den völlig intonationsrein artikulierenden Bläsern, man selbst als Fachmann nur staunen kann, stehen die Sänger. Pompeio Magno ist ein Ensemblestück, in dem es keine Hauptrollen gibt. Also werden sie alle gleichermaßen gefeiert: Max Emanuel Cencic‘ fein nuancierender Pompeo, die grandiose Mariana Flores als Königin Issicratea, der dramatische Ausbrüche nicht fremd sind, der Tenor Valerio Contaldo als kraftvoller Mitridate,  der sensibel artikuliernde Counter Alois Mühlbacher als weißgewandete Unschuldsgestalt Farnace, der sinnigerweise auch die Partie des geflügelten Amor übernahm, Nicoló Balducci als Sesto, der strahlende Ritter von der schönsten Gestalt (als habe er gerade den Sieg über die Türken bei Lepanto errungen, bevor er in den Kerker geworfen und gefoltert wird), die lustig aufspielende Sophie Junker als colombinenhafte Giulia, der Bariton Victor Sicard als ihr Vater Cesare, ein typisch langbärtiger vecchio, der Tenor Nicholas Scott als dessen Sohn Claudio, in dem sich der Typus des Pantalone glänzend erhielt, der Counter Valer Sabadus als bekannt spielfreudiger Servilio-Arlecchino, Jorge Navarro Colorado als dottoreähnlicher Crasso, Konsul von Rom – und enormer Hutträger. Nicht zuletzt machen die komischen Rollen den Erfolg des Abends aus: allen voran der großartige Counter Marcel Beekman als Atrea, eine verrückte Alte, bisweilen mit nacktem Busen, immer mit größter vis comica und dem Mut zum Derben auftretend. Er / Sie erscheint nur zu zweit, ihr / sein Partner heißt  Delfo, ist Diener und hört, deutlich im Stil der expliziten Commedia dell‘arte agierend, auf den Namen Dominique Visse. Der CounterKacper Szelążek ist schließlich die komische Alte Arpalia, die einzige Ermordete an diesem Abend. Alexandros Loggos schuf auch seine / ihre charakteristisch übertreibende Maske (ein Extralob auch für dieses Gewerk!), aber man merkt, dass Komik keine Sache des übergestülpten Gesichts ist – wie Szelążek seine Rolle angeht, ist komödiantisch so stark wie alles, was an diesem Abend an Lustspiel und Tragödie zu erleben ist.

Der Klatschmarsch weitester Teile eines vom szenisch-musikalischen Bilderbogen überwältigten Publikums war denn auch für ausnahmslos alle Protagonisten sehr lang und sehr euphorisch. Die Oper als Fest, so hat Hugo von Hofmannsthal einmal seine Konzeption eines musikalischen, auf das Barock zurückgehenden Theaters definiert. Im Pompeo Magno hätte er, nicht zum ersten Mal beim Bayreuth Baroque, seine Bestätigung gefunden: im Geist eines zauberhaften Carneval.

Frank Piontek 9. September 2025


Pompeo Magno
Francesco Cavalli
Bayreuth Baroque

Besuchte Aufführung am 6. September 2025
Premiere: 4. September 2025

Inszenierung: Max Emanuel Cencic
Musikalische Leitung: Leonardo Garcia-Alarcón
Capella Mediterranea

Fotos © Clemens Manser Photography