Die erste Musiktheater-Neuinszenierung dieser Saison auf der großen Bühne widmet das Landestheater Detmold einer der beliebtesten Opern und einem Klassiker des Repertoires, La traviata von Giuseppe Verdi. Er komponierte sie nach einem erfolgreichen Roman von Alexandre Dumas, den er als Bühnenfassung mit seiner Freundin und späteren Ehefrau Giuseppina Strepponi in Paris gesehen hatte. Das Libretto verfasste Francesco Maria Piave. Die Inhaltsangabe des Landestheaters beginnt so: „Violetta führt ein Leben im Überfluss: Männer, Geld und Alkohol ohne Ende und eine Party nach der nächsten. Doch die junge Edelprostituierte ist todkrank. Auf dem Zenit ihrer Jugend wird sie, die nicht an die Liebe glauben will, von ihr überrollt.“ Damit wird das Stück in eine Gegenwart geholt, an der das durchschnittliche lippische Publikum keinen Anteil hat, aber insgeheim wohl doch davon träumt, hin und wieder in die Welt der oberen Zehntausend einzutauchen oder gar dazuzugehören.

Das jugendliche Landei Alfredo Germont ebnet ihm den Weg dorthin. Er gerät auf eine jener berüchtigten, von Violetta Valéry ausgerichteten Partys und verliebt sich in sie. Nach einem Jahr gesteht er ihr seine Liebe. Sie fühlt sich selbst erstmals ehrlich geliebt, betrachtet sich aber zunächst als nicht wert, um seine Liebe zu erwidern, zumal sie an Tuberkulose tödlich erkrankt ist. Im zweiten Akt leben sie auf ihre Kosten bereits gemeinsam in Pariser Umland; Violetta erfährt endlich wahre Liebe und nicht Liebe als Ware. Doch sie haben nicht mit seinem Vater gerechnet. Der ist von der Liaison seines Sohnes mit einer Prostituierten überhaupt nicht begeistert. Deshalb sucht er Violetta auf und löst moralischen Druck auf sie aus, indem er ihr vorwirft, sein Familienglück zu zerstören, da er unter diesen Bedingungen seine Tochter nicht anständig verheiraten könne. Jetzt erweist sich Violetta als einzige verantwortungsvolle Person in diesem Drama: Sie trennt sich von Alfredo und kehrt zurück ins Pariser Nachtleben. Anschließend versucht der Vater, Alfredo zur Trennung zu bewegen und mit nach Hause zu kehren. Als er erfährt, dass Violetta nach Paris aufgebrochen ist, ahnt er, dass sein Vater sie bereits beeinflusst hat, und eilt ebenfalls nach Paris. Dort kommen beide unabhängig voneinander auf eine Party von Violettas Freundin Flora, und zunächst weiß Alfredo nichts von der Anwesenheit seiner Geliebten. Stattdessen hat er reiches Spielglück. Doch dann kommt es zur Aussprache, Violetta versucht ihn abzuwimmeln, er verdächtigt sie, einen anderen Liebhaber zu haben, was sie zum Schein bestätigt, um den Einfluss seines Vaters nicht erwähnen zu müssen. Alfredo ist zutiefst beleidigt, dass er sich von einer Edelhure hat aushalten lassen, und wirft ihr das Spielgeld vor die Füße. Das wiederum betrachten die anderen Anwesenden, darunter sein Vater, als unverzeihlichen Affront ihr gegenüber. Er zeigt Reue, und Violetta versichert ihm seine Liebe, was er aber erst später verstehen könne. Dritter Akt: Violettas letzte Stunden sind angebrochen. Vater Germont hat ihr geschrieben, dass Alfredo ins Ausland gegangen ist, er ihm aber enthüllt habe, dass er für die Trennung verantwortlich sei, und beide kommen würden, was dann auch geschieht. Vor dem Hintergrund von Karnevalslärm erleben sie ihren Tod, bei dem alle die Kraft haben, sich zu verzeihen.
Die Verlagerung in die Gegenwart passt zur Aussage Verdis über seine Traviata: „Ein Stoff unserer Zeit“. Schwindsüchtige Mädchen vom Lande wie Dumas‘ Vorbild Alphonsine Plessis werden heute medizinisch behandelt, aber auch heute suchen junge Frauen ihre blühende Jugend im Luxus der großstädtischen High Society genießen zu wollen. Hier setzt die Inszenierung von Vivien Hohnholz an. Die Protagonistin ist nicht an Aids oder Covid-19 tödlich erkrankt, auch nicht drogenabhängig. Auf einem niedrigen, sich drehenden Podest stehend, ist Violetta zum Objekt männlicher Begierde geworden; die Partygäste bewerfen sie mit Geldscheinen und versetzen sie in Posen – ihre Freude ist abhängig davon, von Männern in Besitz genommen zu werden.

Auch im zweiten Akt ist sie Objekt, wenn Vater Germont das Opfer der Trennung von ihr verlangt. Wie sie ihre Opferrolle annimmt, ist ein ganz starkes, christlich-religiös geprägtes Bild in dieser Inszenierung, denn diese Rolle verleiht ihr Stärke und Würde und eine Überlegenheit gegenüber dem Vater. Beim Gespräch zwischen dem Vater und dem Sohn wird das Publikum von einer Sequenz überrascht, die hier nicht verraten werden soll. Während die Inszenierung bislang prinzipiell der Vorlage folgte, kommt es im dritten Akt zu unnachvollziehbaren Abweichungen auf der Flora-Party. Hier werden sich Violetta und Alfredo von vornherein ihrer Anwesenheit bewusst, und ein Spiel um Geld zwischen Alfredo und Baron erfolgt nicht. Der Höhepunkt der Aufführung findet dafür im letzten Bild statt. Violetta hat ihre Koffer gepackt. Ihre Krankheit erweist sich als Gefangenschaft durch männliche Bevormundung und Misogynie, vor denen sie fliehen will, die sie aber auch suizidgefährdet werden lässt. Sie stirbt (nicht durch Selbstmord) für die männliche Dominanz und gelangt so zur Freiheit. Die Kamelie, die Violetta im ersten Akt Alfredo überreicht, ist hier ein Setzling, den Alfredo mitgebracht hat und erst im letzten Bild eingepflanzt wird – ein schönes Symbol dafür, dass die Erinnerung an die gemeinsame Liebe überdauert.
Das Premierenpublikum erlebte insgesamt eine lebendige und schlüssige Inszenierung, die mit viel Beifall und einzelnen Buhs bedacht wurde.
Das Landestheater Detmold ist ein Tourneetheater, was dem Bühnenbild praktische Grenzen setzt. Aber in La Traviata dominieren die Gefühle und inneren Motivationen, weshalb Äußerlichkeiten nebensächlich sind. In diesem Sinne hat Barbara Steiner eine weiße Drehbühne entworfen mit einem Stück weißer Wand, die etwas Privatsphäre vermitteln kann. Im Hintergrund stehen ein paar aufsteigende Zuschauerreihen, von denen aus die Partygäste Violetta bewundern können. Ein kleines weißes Hausmodell steht für die ländliche Idylle, die Alfredo für sich und Violetta erträumt. Das alles reicht völlig, um darin die Geschichte glaubhaft zu erzählen. Die Kostüme von Coline Meret Lola Jud passen dazu, wobei sie für Violetta besonders bewusst ausgewählt sind, denn sie wechseln von privat (Jeans, einfache Jacke) über Klischee (rotes Kleid und schwarze Unterwäsche) und von Alfredo überreichte Landhausgarderobe zum finalen privaten Outfit. Alfredo trägt Jeans und Chinos, dazu in den Eck-Akten eine Lammfelljacke. Vater Germont ist rustikal gekleidet, die übrigen Protagonisten und der Chor individuell dazu passend, sodass man die Herren in den Nebenrollen besser voneinander unterscheiden kann, als wenn sie alle Frack oder Smoking trügen.

Musikalisch lässt die Aufführung keine Wünsche offen. Aleksandra Szmyd ist eine junge, agile Violetta mit kristallklarem, gutsitzendem Sopran, der anfangs unterkühlt klingt – sie spielt ja auch die coole Frau – und danach an Wärme und Innigkeit gewinnt. Den Wandel von der Dame, die im Mittelpunkt steht, zum Opfer gestaltet sie sehr überzeugend. Ihr zur Seite steht ebenbürtig Ji-Woon Kim als Alfredo. Rein optisch verkörpert der schlanke, sportliche Tenor in idealer Weise den jungen Liebhaber, und akustisch überwältigt er mit baritonal gefärbter, gut fokussierter und kräftiger Stimme, die nie ins Schluchzen fällt, sondern in allen dynamischen Facetten edel leuchtet.
Seine Qualität hat er sozusagen geerbt, denn auch Giorgio Germont beziehungsweise Jonah Spungin ist ein ebenso viriler wie kantabler Bariton. Die übrigen Protagonisten fügen sich in gleich hoher Qualität ein: Lotte Kortenhaus als Flora, Boyoung Lee als Annina, Nikos Striezel als Gaston, Euichan Jeong als Baron Douphol, Hojin Chung als Marquis d’Obgny und Jaime Mondaca Galaz mit mächtigem Bass als Doktor Grenvil, der seinen weißen Arztkittel nie ablegt. Francesco Damiani hat den Chor, der auch darstellerisch gefordert ist, gut einstudiert. GMD Per-Otto Johansson dirigiert das sensible und hellwache Orchester des Landestheaters Detmold mit viel Schwung und ebenso viel Einfühlungsvermögen in die Kantilenen, die er von den Sängerinnen und Sängern ausgestalten lässt. Das Premierenpublikum bedankte sich zu Recht ausgiebig für diesen gelungenen Saisonstart.
Bernhard Stoelzel, 13. September 2025
La traviata
Giuseppe Verdi
Landestheater Detmold
Besuchte Premiere: 12. September 2025
Inszenierung: Vivien Hohnholz
Musikalische Leitung: Per-Otto Johansson
Orchester des Landestheaters Detmold
Daten der Folgevorstellungen: 14. September, 27. September, 1. Oktober, 19. Oktober, 25. Oktober, 31. Oktober, 5. November, 23. November, 25. Dezember 2025, 16. Januar 2026, 5. Februar 2026, 20. Juni 2026. Außerdem in Solingen: 20. September, Hameln: 24. September, Iserlohn: 13. November, Paderborn: 14. November, Herford: 13. Dezember, Fürth: 17. Dezember 2025