Meiningen: „Didone abbandonata“, Domenico Sarro

Er würde sich die Augen reiben, säße er im Publikum. Ein gemalter Bühnenraum wie einst in seinem Theater schafft die perfekte Illusion eines Palastes am Meer. Die Kostümideen könnten fast von ihm sein, Maske und Accessoires charaktertypisch. Wer hat ihm da über die Schulter gesehen? Werden ihm der Titel Didone abbandonata, der Komponist Domenico Sarro und der Librettist Pietro Metastasio etwas sagen? Schließlich sorgten sie vor 301 Jahren für einen Blockbuster, der von Wien bis Neapel begeisterte, und in der Musikaliensammlung seines Urgroßvaters liegt eine Abschrift dieser Oper. Eher nicht, denn aus Kostengründen schaffte er damals das Musiktheater ab.

Theaterherzog Georg II. von Sachsen-Meiningen feiert bald seinen 200. Geburtstag. Auf der Suche nach einem passenden Geschenk stieß Intendant Jens Neundorff von Enzberg auf dieses Werk, infizierte Regisseur Dietrich W. Hilsdorf und Dirigent Samuel Bächli, diesen verborgenen Schatz zu heben, um ihn hierzulande zu einer szenischen Erstaufführung zu bringen. Hilsdorf inszeniert die Oper als Kammerspiel, in dem sechs Personen im Streben um Macht Intrigen spinnen, mit Gefühlen kämpfen, sich und anderen etwas vorspielen und dabei alles andere als eingleisige Charaktere sind. „Jede Figur hat ihre Brüche und Schwierigkeiten“. Metastasio grenzte sich damals mit der Vielschichtigkeit seiner Protagonisten klar vom Mainstream seiner Kollegen ab.

© Christina Iberl

Damit die Musik diesen Charakteren die entsprechenden Farben noch deutlicher verleiht, lichtete Samuel Bächli das Werk. Dass er in der Meininger Hofkapelle mit exzellenten Musikern arbeiten kann, die sich auf Neues hochmotiviert einlassen, ist ein großer Vorteil. Er lässt nicht immer das gesamte Orchester spielen, schaufelt Platz für Soli, nimmt Wucht zurück und unterstützt die Psychologie der Personen. Der Kontrastreichtum innerhalb der Arien sorgt für stete Spannung und Dramatik. Mit den drei Continuo-Instrumenten Laute, Cembalo und Barockorgel hat die Musik noch mehr szenische Kraft und man fragt sich, warum dieses Juwel so lange in der Versenkung lag.

Hilsdorf schuf für dieses Kammerspiel einen großen gemalten Bühnenraum im Stil der Entstehungszeit, platziert aber auf der linken Seite dezent sechs moderne Garderoben, wo sich die Darsteller gelegentlich aufhalten, bis ihr nächster Auftritt folgt. Dies schafft eine gewisse Distanz, auch für den Zuschauer. Dieser Spielort bleibt und wird nur geringfügig verändert.

Der Urstoff für die Geschichte findet sich in Vergils Aeneis. Den Trojaner Aeneas verschlägt es nach einem Sturm an die Küste Karthagos. Dort verliebt er sich in Königin Dido und bleibt zunächst. Weil er aber eine Mission zu erfüllen hat, will er wieder abreisen. Er bittet ihre Schwester Selene, die ihn heimlich liebt, ihr das schonend beizubringen. Osmida, deren Vertraute, wittert eine Chance für ihre eigenen Pläne. Iarba, König der Mauren, versucht mit allen Mitteln, Dido zur Heirat zu bewegen, bekommt jedoch nur Körbe. Seine Versuche, Aeneas mithilfe seines Vertrauten Araspe zu töten, scheitern. Dido meint, den Geliebten halten zu können, wenn sie ihm die Wahl bietet, sie entweder zu töten oder einer Ehe mit Iarba zuzustimmen. Vergeblich. Aeneas reist ab, Iarba, wütend über Didos Ablehnung, vernichtet Karthago und sie wählt den Tod.

Wenn am Ende offensichtlich wird, dass Karthago fällt, Wände brechen, Flammen lodern und Rauch durchs Theater kriecht, mutet es grotesk an, dass jeder scheinbar unbeteiligt zum Glas Wein greift. Keiner hat in diesem Drama gewonnen.

© Christina Iberl

Hilsdorf kostet das Personengefüge lustvoll aus, paart Oper mit Schauspiel und lässt in den drei Akten einen regelrechten Seelenstriptease ablaufen. Mit gleich drei Dreiecksverhältnissen und politischen Ambitionen enthält die Geschichte so viel Konfliktpotential, dass niemand gewinnen kann. Alle spielen sich etwas vor, lügen und betrügen und verfolgen intrigant ihre eigenen Ziele, was meist scheitert. Musikalisch umgesetzt wird diese Vielschichtigkeit in einer Perfektion, die staunend macht. Alle sechs Protagonisten beherrschen ihre Partien mühelos und authentisch. Alle Figuren sind charaktertypisch gestaltet. Das fängt bei Kostümen und Maske an und hört bei teils bewusst überzeichnetem Verhalten auf, was viel Komik bringt und wie bei Brecht auch emotionale Distanz für den Zuschauer schafft.

Dido, gepanzert in roter Robe, zeigt wahrhaft königliche Haltung und Härte. Lubov Karetnikova identifiziert sich sehr eindrucksvoll mit dieser Frau, die sich zwischen Macht und Pflicht, Liebe und Anspruch bewegt, und lässt nur wenig Nähe zu. In faszinierenden und bewegenden Koloraturarien gestaltet sie ein höchst eindrucksvolles Bild dieser Herrscherin. Aeneas ist neben ihr ein weinerliches Weichei und versteckt sich buchstäblich hinter ihrem Rücken. Meili Li, der chinesische Countertenor, spielt ihn so unerträglich echt, dass keiner glaubt, hier einen Helden vor sich zu haben. Höfisch gewandet, aber bleich mit wirrem Haar wirkt er wenig anziehend. Erst als er sich auf seine Mission besinnt, ein neues Troja zu gründen, findet eine Metamorphose statt. Wenn er den Militärmantel aus dem Seesack zieht, seinen Talisman, einen Totenkopf, liebkost, erwacht der Drang nach Abenteuer, Ruhm und Ehre. Auch er meistert seine Partie durchgängig souverän und rollentypisch.

Monika Reinhard, im blauen Seidenkleid, verkörpert Didos treue Schwester Selene anrührend und mädchenhaft zart. Die besonderen Klangfarben ihres ausgereiften Soprans changieren zwischen Liebe und Verzweiflung und offenbaren die ganze Tragik dieser Frau. Im krassen Gegensatz steht Hannah Gries als Osmida. Ganz in Schwarz operiert die geborene Intrigantin im Sinne ihrer Interessen so teuflisch, dass man sie nicht zur Feindin haben möchte. Die erfolgreiche Sopranistin ist neu im Ensemble, ein Glücksgriff!

© Christina Iberl

Interessant ist, dass schon in der Uraufführung 1724 der Maurenkönig Iarba von einer Frau gesungen wurde. Wenn eine für diese Rolle passt, dann die bewährte Mezzosopranistin Marianne Schechtel. Da betritt ein Supermacho die Bühne, der mit jeder Faser so hinreißend übertrieben signalisiert, dass er der Größte ist: lässig elegant in Aussehen und Bewegung. Allein die Mimik verdient einen Oscar. Araspe hingegen muss sich treten und ausnutzen lassen. Als Iarbas Vertrauter kommt ihm zwar eine gewisse Position zu, aber letztlich bleibt er ein Loser. Blass, gequält, aussichtslos in Selene verliebt, gibt Garrett Evers, ebenfalls neu im Ensemble, ein vielversprechendes Debüt.

Über zwei Spielzeiten feiert Meiningen den 200. Geburtstag Herzog Georgs II. mit einer Fülle von besonderen Veranstaltungen. Man darf gespannt sein, welche Schätze noch auf ihr Publikum warten.

Inge Kutsche, 21. September 2025


Didone abbandonata
Domenico Sarro
Libretto von Pietro Metastasio

Staatstheater Meiningen

Premiere am 19. September 2025

Regie: Dietrich W. Hilsdorf
Musikalische Leitung: Samuel Bächli
Staatskapelle Meiningen

Weitere Vorstellungen: 26. September, 8., 12. und 18. Oktober, 23. November, 28. Dezember 2025, 22. Januar, 7. März 2026