Zürich: „Manon“, Jules Massenet

© Herwig Prammer

Es gibt sie also doch, die Opernabende bei denen alles, aber auch wirklich alles bis ins kleinste Detail stimmt. Das war gestern Abend im Opernhaus Zürich der Fall bei der Wiederaufnahme von Jules Massenets Erfolgsoper MANON (die Premiere hatte im April 2019 stattgefunden).

Einerseits ist da natürlich die wunderbare Musik Massenets, welche die Grundstimmung und die Zeichnung der Charaktere in dieser Histoire de Manon Lescaut vortrefflich einfängt und direkt in die Herzen des Publikums zu transportieren vermag, und Massenet hatte mit dem Libretto aus der Feder von Henri Meilhac (er hatte diverse Libretti für Offenbach verfasst und natürlich Bizets CARMEN) und Philippe Gille (hatte u.a. an LAKME von Delibes mitgewirkt) auch eine treffliche, hervorragende Textvorlage erhalten. Andererseits sind es die überaus stimmige szenische Produktion in Zürich und die herausragende Besetzung, welche den Abend zum ganz großen Opernglück machen.

Beginnen wir mit der Inszenierung: Ich kann da eigentlich nur meine Eindrücke von der Premiere von 2019 wiederholen. Der Regisseur Floris Visser setzt die Handlung behutsam und mit sehr genauer Detailzeichnung in Szene. Die Personenführung ist auch bei dieser Wiederaufnahme superb gearbeitet bis in die kleinste Rolle und die Behandlung des Chors und der Statisten hinein. Die karge Holzkiste, welche Dieuweke van Reij auf die Bühne gestellt hatte, wird mit Leben durch die Personen in den fantastisch gearbeiteten Kostümen im Stile der Belle Époque belebt (auch die Kostüme stammen von Dieuweke van Reij). Die flexibel verschiebbare Rückwand eröffnet zusätzliche Räume und Traumwelten undfür Auftritte des Chors, nur wenige, den jeweiligen Handlungsorten angepasste Sitzgelegenheiten, ein Altar, ein riesiger Spieltisch, einige Transportkisten und viele Koffer der Reisenden im ersten Bild sind notwendig, um die jeweiligen Schauplätze der sechs Bilder zu evozieren.

© Herwig Prammer

Durch die ausgesprochen stimmig ausgeleuchtete Bühne (Lichtdesign: Alex Brok) und die detailgenaue Personenführung wird eine Konzentration auf die Charaktere ermöglicht, die einen ganz nahe an die Personen und ihre Motivationen herankommen lässt. Manchmal weht regelrecht ein Hauch von Guy de Maupassant und Émile Zola über die Bühne, Zeitgenossen Massenets. Während des kurzen Vorspiels lässt der Regisseur das Kind Manon staunend einen festlichen Ball in ihrem Elternhaus beobachten, sie entwendet einen Glacéhandschuh, den eine Dame hat fallen lassen, bewundert sich selbst im Spiegel und wird von ihrem gestrengen Herrn Papa autoritär in die Schranken und aus dem Saal gewiesen. Daraus folgt dann wohl die Einweisung ins Kloster, der sie durch die Flucht mit Des Grieux entgeht.

Am Ende der Oper öffnen sich alle Wände und die sterbende Manon erblickt in einer Vision wiederum das kleine Mädchen mit dem Spiegel. Aus dem Hintergrund nähern sich Menschen aus dem Verlauf der Oper, alle tragen sie Splitter des zerbrochenen Spiegels in der Hand. Der Traum von Manon Lescaut ist geplatzt. The mirror cracked, wie in Tennysons Ballade der Lady of Shalott. Floris Visser inszeniert an vielen Stellen sehr behutsam, poetisch, dann aber auch wieder richtiggehend derb mit mehr als nur angedeuteten sexuellen Handlungen, so zum Beispiel im vierten Akt, der im verruchten Hôtel de Transylvanie spielt. Da tummeln sich die Menschen der demi-monde, Prostituierte beiderlei Geschlechts, Transgenders, Lustknaben, Alkoholiker und Spielsüchtige. Von beeindruckender Intensität ist auch die Szene in Saint-Sulpice, wo sich die Statue der Madonna flugs in die lüsterne Manon verwandelt und den Geist des Priesters Des Grieux heimsucht. Ein Priester allerdings, bei dessen Predigt sich die braven, biederen Kirchgängerinnen plötzlich, wie Groupies eines Rock- oder Opernstars aufführen. Das alles ist verblüffend punktgenau in Szene gesetzt – und dank des ausgezeichneten Ensembles, das für diese Wiederaufnahme vollständig neu zusammengestellt worden war, von ungeheurer Lebendigkeit.

Lisette Oropesa ist Manon mit jeder Faser, jeder Mimik, jeder Geste und mit einer stupenden vokalen Rollengestaltung. Die Stimme leuchtet, brennt, kennt Leidenschaft, Trauer, Stimmungsschwankungen und ist von immenser Kraft, ohne jegliches Forcieren. Da ist eine tiefe Empfindsamkeit zu verspüren, eine Jugendlichkeit, eine Unerschrockenheit, aber auch Wehmut und Selbstvorwürfe und vor allem ein Verständnis für und eine Liebe zu dieser Figur. Das ist weniger kalkulierende femme fatale als vielmehr einfach eine junge Frau an der Schwelle zum Erwachsenwerden, welche für ihre Fehler bitter bezahlen muss. Ihre Stimme harmoniert aufs Allerschönste mit dem agilen, wunderschön geführten Tenor von Benjamin Bernheim, der in jeder Beziehung ebenfalls eine Idealbesetzung für den Chevalier Des Grieux darstellt. Auch er kann jugendlich spontan sein, freudig erregt, aber auch voller Selbstzweifel und Reflexion. Er kommt von Manon nicht los, kann aber auch nicht mit ihr und ihrer Sucht nach weltlichem Luxus leben. Das fatale On and Off dieser Beziehung wird vom Regisseur und diesen beiden Interpreten überaus eindringlich herausgearbeitet.

Dadurch, dass diese MANON ohne Striche daherkommt, dauert der Abend zwar etwas länger als üblich, hat aber den Vorteil, dass wichtige Figuren viel klarer umrissen, werden: So der etwas liederliche Charakter von Manons Cousin Lescaut, auch er (muss wohl in der Familie liegen) ist vergnügungssüchtig und oberflächlich dahinlebend mit viel Alkohol und Glücks- und Falschspiel. Yannick Debus zeichnet und singt diesen jungen, blendend aussehenden Gardisten mit herrlicher Virilität und Verdorbenheit. Die „wohlhabenden Männer“ in dieser Oper sind nicht gerade Sympathieträger: Der in Manon vernarrte (aber bei ihr abblitzende) Guy de Morfontaine ist dauerbesoffen und rachsüchtig. Daniel Norman spielt und singt den Widerling mit der hervorragenden Glaubwürdigkeit des Verderbten.

© Herwig Prammer

Auch Monsieur de Brétigny, dem Manon schließlich ihre Gunst schenkt, ist ein zwiespältiger Charakter, der denkt, dass er mit Geld alles (auch Frauenherzen) kaufen kann. Der Bass-Bariton Andrew Moore verleiht ihm mit sonorer Stimme Profil. Der dritte dieser reichen Männer ist Des Griuex‘ Vater. Nicholas Testé zeichnet ihn mit eleganter Autorität. Viel zur Farbigkeit der Milieuschilderung tragen die erfrischenden, quicklebendig sprühenden Stimmen der drei leichten Damen Poussette (Yewon Han), Javotte (Rebeca Olvera) und Rosette (Karima El Demerdasch) bei. Valeriy Murga (Wirt), Tomislav Jukic und Samuel Wallace (Deux Gardes) ergänzen das wunderbare Ensemble aufs Beste. 

Im Graben steuert das Orchester der Oper Zürich unter der leidenschaftlich anspornenden, alle Stimmungen eindringlich auslotenden, aber nie zu laut vorpreschenden Leitung von Sesto Quatrini Entscheidendes zur Gesamtwirkung dieser bewegenden, intensive Wirkung entfaltenden Musik Massenets bei. Der von Ernst Raffelsberger einstudierte Chor der Oper Zürich zeigt sich in bestechender, klangstarker Form!

Fazit: Ein ganz starker, bewegender Abend, bei dem man für einmal nicht ständig Metaphern des Inszenierungsteams zu entziffern versuchen muss und sich deshalb vollständig von der eigentlichen Handlung rühren lassen kann. Ein musikalisches Fest.

Kaspar Sannemann 1. Oktober 2025


Manon
Jules Massenet
Zürich, Opernhaus

WA 24. September 2025
Premiere April 2019

Regisseur Floris Visser
Dirigat: Sesto Quatrini
Orchester der Oper Zürich