Lieber Opernfreund-Freund,
die erste Opernpremiere der nun wohl doch wirklich letzten Saison am Staatenhaus, bevor die Oper Köln zur Spielzeit 2026/27 an den Offenbachplatz zurückkehren darf, ging am vergangenen Wochenende über die Bühne. Dabei gab der neue GMD des Gürzenich-Orchesters, Andrés Orozco-Estrada, seinen Einstand als Operndirigent. In der zweiten Vorstellung gab es zudem zwei Rollendebüts; deshalb habe ich mir die Produktion gerne für Sie angesehen.

Wohl in die 1940er und 50er Jahre verlegt Regisseur Carlos Wagner die Handlung um die blutjunge und hübsche Manon, die vom Studenten Des Grieux vor dem Kloster bewahrt wird, bevor sie die beiden in eine On-Off-Beziehung stürzen, die Wagner dann für beide tödlich enden lässt. Auf dem Weg spart er nicht mit leidlich Filmzitaten aus Viscontis Ossessione aus dem Jahr 1943 oder aus How to marry a millionaire mit Marilyn Monroe. In seiner mehr oder weniger ganz in Schwarz-Weiß gehaltenen Inszenierung (Kostüme: Jon Morrell) zeigt er Manon als Opfer ihrer Zeit, in der die große wirtschaftliche Not viele Menschen dazu bringt, alles zu tun, um zu überleben. Sie nehmen an Gesangswettbewerben teil, versuchen im Glücksspiel an Geld zu kommen oder verdingen sich als Lustobjekt einer so betuchten wie lüsternen oberen Gesellschaftsschicht. Doch Manon wird auch für Des Grieux zum Abziehbild, sie gefällt ihm nur als Unschuld vom Tag des Kennenlernens – und er jagt diesem Bild hinterher.
Die Szene wird von einem Karussell beherrscht, Sinnbild für Jugendträume und das Rad des Lebens gleichermaßen, das Frank Philipp Schlößmann allein auf die schiefe Bühne gestellt und mit silbernen, mit funkelnden Steinen verzierten Pferden bestückt hat. Das Karussell verwandelt sich im dritten Akt zu Manons Gefängnis, ehe es im letzten, eindrucksvollsten Bild ganz verschwunden ist. Die Protagonisten sind desillusioniert und in der Wirklichkeit angekommen. Das Leben selbst hat ihnen die Kraft zum Weiter-, ja zum Überleben genommen.

Schon in der Premiere hatte die attraktive Sopranistin Carolina López Moreno die Titelrolle übernommen – wegen der engen Taktung der Aufführungstermine sind die Hauptrollen doppelt besetzt – und überzeugt auch an ihrem zweiten Abend auf ganzer Linie. Sie spickt ihren ausdrucksstarken Sopran, den sie in der tiefen Lage fast mezzohaft klingen lässt, mit anbetungswürdigen Höhenpiani und einer ungeheuren Bandbreite an Farben und punktet auch darstellerisch auf ganzer Linie. Young Woo Kim ist gewissermaßen an der Oper Köln groß geworden, war von 2016 bis 2018 Mitglied des internationalen Opernstudios am Haus. Ihn nun in der Rolle des Des Grieux debütieren zu sehen, ist eine reine Wonne. Sein Tenor hat sich zu einer gehaltvollen, facettenreichen Stimme entwickelt, mit der sich der aus Korea stammende Sänger scheinbar mühelos und kraftvoll zu tenoralen Höhen aufschwingt und auf der vollen Klaviatur der Emotionen zu spielen versteht. In Köln ebenfalls nicht unbekannt ist Wolfgang Stefan Schwaiger, der mit charaktervollem Bariton ein überzeigendes Lescaut-Debüt gibt, während Adriana Bastidas-Gamboa mit ihrem weichen Mezzo eine echte Luxusbesetzung für den kurzen Auftritt des Musikers darstellt.

Der aus Kolumbien stammende neue Generalmusikdirektor des Gürzenich-Orchesters, Andrés Orozco-Estrada, präsentiert sich in dieser Produktion erstmals als Operndirigent und entfacht mit den Musikerinnen und Musikern ein vielschichtiges Klangfeuerwerk. Jenseits purer, puccini‘scher Klangwogen arbeitet er die einzelnen Orchesterstimmen genau heraus und zeigt so die schroffen Kanten, die die Partie des seinerzeit gerade einmal 25jähigren Komponisten durchaus auch hat. Er schlägt variantenreiche Tempi an und demonstriert zudem, dass er die große Klangfülle ebenso gut beherrscht: Das Intermezzo vor dem letzten Bild, eigentlich einer intimen Trauermusik für Streichquartett namens Crisantemi entnommen, die Puccini drei Jahre vor der Oper zum Gedenken an Herzog Amadeo von Savoyen komponiert hatte, gerät im Kölner Staatenhaus unter der Leitung des neuen GMD zur klangvollen kleinen Sinfonie.

Glänzend disponiert zeigt sich auch der von Rustam Samedov betreute Chor, so dass sich der Abend musikalisch auf höchstem Niveau präsentiert. Das merkt auch das Publikum im gut besuchten Haus, ist ähnlich begeistert wie ich und feiert die Protagonisten, Debüttanten und vor allem den neuen GMD mit frenetischem Applaus.
Ihr
Jochen Rüth, 3. Oktober 2025
Manon Lescaut
Oper von Giacomo Puccini
Oper Köln
Premiere: 28. September 2025
Regie: Carlos Wagner
Musikalische Leitung: Andrés Orozco-Estrada
Gürzenich-Orchester Köln
weitere Vorstellungen: 4., 5., 8., 12., 15., 17. und 19. Oktober 2025