Wien: „Alice in Wonderland“, Unsuk Chin

© Matthias Baus

Die gebürtige Südkoreanerin Unsuk Chin (1961*) etablierte sich spätestens im vergangenen Jahr im Olymp der führenden zeitgenössischen Komponisten, als sie den mit 250.000 Euro dotierten Ernst von Siemens Musikpreis erhielt. Im Musiktheater an der Wien feierte nun Chins erste Oper „Alice in Wonderland“, immerhin 18 Jahre nach der Uraufführung in München (2007), Premiere. Die Oper in acht Szenen mit reduzierter Orchestration in Zusammenarbeit der Komponistin mit Lloyd Moore (2011-12) beruht auf dem Libretto von David Henry Hwang (1957*) und Unsuk Chin nach Lewis Carrolls (1832-98) Alice in Wonderland und Through the Looking Glass. Die Oper beginnt und endet mit einem Traum: Alice fällt in das Loch eines Kaninchenbaus und stürzt immer tiefer in den Schacht, symbolisch für die bodenlose Tiefe des eigenen Ich. „I am who?“ ist die zentrale Frage von Alice. In diesem (ihrem) Wunderland trifft sie auf das stets gehetzte weiße Kaninchen, landet mit merkwürdigen Tieren in einem Tränenmeer, erhält Rat von einer Raupe, ist zu Gast bei der Teeparty des verrückten Hutmachers und wird von der grausamen Herzkönigin vor Gericht gestellt. Ihre ebenso einfache wie philosophische Frage „I am who?“ führt Alice weniger zur Erkenntnis als vielmehr zu immer neuen Fragen. Die südkoreanische Komponistin Unsuk Chin kam 1988 als Schülerin von György Ligeti nach Hamburg, durchlief die Darmstädter Ferienkurse, später missverständlich als „Darmstädter Schule“ apostrophiert. Mittlerweile gehört Chin zu den renommierten Gegenwartskomponisten. Klangfarbe, Licht und Traum stehen im Mittelpunkt ihrer Musik, wodurch sie sich bewusst allen stilistischen Einordnungen zu entziehen trachtet. In ihrer 2007 uraufgeführten ersten Oper Alice in Wonderland greift die Komponistin sehr humorvoll verschiedenste Stile auf und schafft so eine faszinierend schillernde Welt. Alices Begegnungen werden dabei fernab von allem Märchenhaften zu surrealen Traumbildern. Die Regisseurin Elisabeth Stöppler, die zum ersten Mal am MusikTheater an der Wien inszeniert, greift die Traumlogik des Werkes auf und erzählt die Geschichte von Alice im Wunderland als eine unablässige Begegnung eines Menschen mit sich selbst, als große Selbstsuche von Alice, der auch noch ihr eigenes Kinder-Ich beigegeben wird. Neben zahlreichen Dissonanzen waren an diesem Abend aber auch ganze Passagen von konventioneller Musik gespickt mit Zitaten verschiedenster Epochen zu hören. Mit rasanter Geschwindigkeit wechseln einander verschiedenste musikalische Stile und Stimmungen ein bisschen künstlich und affektiert ab.

© Matthias Baus

Das Geschehen spielt sich bis zur Pause auf einer Drehbühne ab, die von grasbewachsenen Hügeln mit Kaninchenlöchern geprägt ist – gestaltet von Valentin Köhler. Bühnenelemente bewegen sich nach oben und unten, eine Akrobatin wird sogar von der Decke herabgelassen. Nach der Pause wirkt die Bühne zwar leer, doch entstehen weiterhin komplexe, dynamische Szenen, insbesondere rund um die Herzkönigin. Trotz der insgesamt düsteren Inszenierung bleibt der belehrende Ton erhalten, etwa durch symbolische Darstellungen, die dem Publikum bestimmte Denkweisen nahelegen. Die Kostüme von Su Sigmund verliehen der Bühne Lebendigkeit und erinnern an eine englische Operette. Viele Figuren sind nicht klar zuzuordnen, außer prägnanten Charakteren wie der Herzkönigin, dem verrückten Hutmacher, dem weißen Kaninchen oder der Grinsekatze. Bei der Uraufführung in München war die Reaktion von Publikum und Presse gespalten: ein Teil floh in der Pause, andere sprachen von einem “Meisterwerk“. Immerhin flohen bei der Premiere in Wien nur wenige Gäste, konnten doch die meisten erahnen, was auf sie bei einer Koproduktion mit Wien Modern zukommt. Der verbleibende Teil des Publikums harrte mit stoischer Ruhe geduldig bis zum Ende aus und klatschte brav, wie man es vom Wiener Publikum erwarten darf. Álfheiður Erla Guðmundsdóttir überzeugte als Alice und wurde von einer spielfreudigen Gruppe begleitet – darunter die Herzkönigin Mandy Fredrich, die Grinsekatze Juliana Zara, die Herzogin Helena Rasker, Teresa Doblinger (Raupe) und Carmen Diego (Alice als junges Mädchen),  sowie eine ehrgeizige Herrenriege mit Ben McAteer (Verrückter Hutmacher), Andrew Watts (weißes Kaninchen), Marcel Beekman (Maus), noch in köstlicher Erinnerung als exzentrische Sumpfnymphe Platée, Henry Neill, Levente Páll (Alter Mann I und II) und Damien Pass (Scharfrichter). Der Arnold Schoenberg Chor überzeugte erneut mit seinem Können und das ORF Radio Symphonie Orchester Wien meisterte unter dem jungen Dirigenten Stephan Zilias die anspruchsvolle Partitur souverän und bewies damit seine Berechtigung. Ein in erster Linie bunter Abend mit interessanter, vielleicht auch auf „interessant“ getrimmter Musik, die stellenweise die Nerven schwer beanspruchte, entließ das Publikum in die wohlverdiente Nachtruhe.

Harald Lacina, 18. November 2025


Alice in Wonderland
Unsuk Chin
MusikTheater an der Wien

Premiere: 17. November 2025

Regie: Elisabeth Stöppler
Dirigat:
Stephan Zilias
ORF Radio Symphonie Orchester Wien
Arnold Schoenberg Chor