Tschaikowskis Klassiker Der Nussknacker ist seit einigen Jahren zum Problemfall geworden, wurden einige Tänze im Divertissement des letzten Aktes doch als rassistisch eingestuft. Trauriges Beispiel ist die opulente Produktion beim Staatsballett Berlin von 2013, welche eine Rekonstruktion der Uraufführung in St. Petersburg 1892 markierte. Man durfte die Originalchoreografie von Petipa/Ivanov genießen und sich darüber hinaus an einer Ausstattung von überwältigender Pracht erfreuen, die sich gleichfalls an den Originalentwürfen orientiert hatte. Seit Jahren wird die Aufführung wegen des Divertissements nicht gezeigt.

Der bulgarische Choreograf Koloyan Boyadjiev hatte im Dezember des vergangenen Jahres eine Version an der Opéra National de Bordeaux vorgestellt, die nun als Koproduktion zum Leipziger Ballett wechselte. Geschickt umging er das Problem mit den Nationaltänzen, indem er deren Musik zwar spielen ließ, sie choreografisch jedoch neutralisierte. Statt Vertretern aus mehreren Nationen sieht man zum Leben erwachte Weihnachtsgeschenke.
Den Auftakt übernehmen Soojeong Choi und Evandro Bossle als temperamentvolle Pfefferkuchenmännchen zum Spanischen Tanz. Es folgen Vivian Wang, Igor Silva, Yukino Chiba und Francesco Barbuto als bunte Knallbonbons zum Arabischen Tanz. Den Chinesischen Tanz übernehmen zwei als Düfte nominierte Paare: Maria Weisinger Braun, Ester Ferrini, Timoteo Mock, Ronan dos Santos Clemente. Lebhaft und sprungstark präsentieren sich Tiziano Botteri, Pedro Luz und Vincenzo Timpa als farbige Geschenkboxen beim Russischen Tanz. Den zauberhaften Tanz der Rohrflöten gestalten Kalina Petkova, Maria Vittoria Scamarda und Camilla Chiesi in unterfütterten Teller-Tutus als Elemente einer Musikspieluhr. Nur auf den spektakulären Auftritt der Mother Ginger in ihrem Riesenreifrock, unter dem eine ganze Kinderschar Platz hat, wurde verzichtet.
Beim Blumenwalzer verwandeln sich die bunten Glaskugeln in der Luft zu Blüten (Ausstattung: Jon Bausor), welche das opulente Tanz Bild atmosphärisch illustrieren. Mit Evelina Andersson und Marcelino Libao ist sogar ein Solo Paar aufgeboten, das auf den finalen Pas de deux einstimmt. Yun Kyeong Lee als Clara und Juliano Toscano als Prinz können hier noch einmal in aristokratischer Manier brillieren, wenngleich sie in ihrer Variation Unsicherheiten sehen ließ. Aber bei der abschließenden Apotheose war alles wieder im Lot.
Wenn Clara aus ihrem Traum erwacht, führt die Szene zurück zum Beginn in den eleganten Salon der Familie Stahlbaum, wo die Gäste (in prachtvollen Kostümen) zum Weihnachtsfest erwartet werden. Unter ihnen ist der geheimnisvolle Marionettenspieler Drosselmeier (Andrea Carino), in dessen kleinem Theater ein Schattenspiel aufgeführt wird, aus dem aber auch lebensgroße Marionetten treten. Die junge Clara (bezaubernd: Ana Carbonero) bekommt von ihm einen Nussknacker als Geschenk, mit dem sie selig einschläft. Im Traum erscheint ihr, in rotes Licht (Paul Keogan) getaucht, eine Armee von gefährlichen Mäusen, angeführt von ihrem König (gespenstisch-monströs: Alessandro Repellini). Den Kontrast zwischen großbürgerlicher Galanterie bei Stahlbaum und bizarrem Bewegungsduktus bei den Mäusen hat der Choreograf sehr plastisch herausgearbeitet. Nach dem Kampf der Zinnsoldaten gegen die Mäuse und der Verwandlung des Nussknackers (Marcelino Libao) in einen Prinzen beginnt Claras Reise in eine Traumwelt. Als Transportmittel dient der heruntergelassene Lüster – eine originelle Idee.
Dagegen ist es merkwürdig, dass im Winterwald noch einmal die Mäuse auftreten, wo doch an diesem Ort die Schneeflocken regieren und das traditionelle weiße Bilddes klassisch-romantischen Balletts abgeben. Die Tänzerinnen und ihre Kavaliere absolvieren die Figuren in schöner Synchronität. Etwas unvermittelt kommt es zum Szenenwechsel mit den Divertissement-Einlagen, als würde Weihnachten im Winterwald gefeiert. Aber insgesamt besitzt die Aufführung märchenhaften Zauber. Schon die Videos von Dan Light, die zu Beginn eine Kleinstadt in weihnachtlichem Schmuck zeigen, stimmen darauf ein.
Und nicht zuletzt ist das feine Musizieren des Gewandhausorchesters unter Leitung von Matthias Foremny zu preisen, das den glanzvollen Abend vollendete. Das Premierenpublikum feierte das gesamte Ensemble enthusiastisch.
Bernd Hoppe 3. Dezember 2025
Der Nussknacker
Peter Tschaikowski
Leipziger Ballett in der Oper Leipzig
Premiere: 28. November 2025
Choreografie: Koloyan Boyadjiev
Dirigent: Matthias Foremny
Gewandhausorchester Leipzig