Ambroise Thomas war für das deutsche Publikum lange Zeit ein One-Work-Composer. Nur Mignon zeugte bei uns von seinem Ruhm, aber auch dieses Werk gehört auf unseren Bühnen nicht einmal mehr zum Randrepertoire, obwohl es ein köstliches Werk ist. Ich sage nur: Titanias Chanson! Symptomatisch ist die Abwesenheit des Komponisten von der Bühne der Bayerischen Staatsoper: Hier wurde nach 1932 lediglich ein Werk Ambroise Thomas’ – wieder Mignon – gespielt, allerdings „nur“, im September 2020, im Opernstudio. Dabei hat der Franzose, wie man inzwischen weiß, weil man sich gute Aufnahmen und Opernmitschnitte ins Haus holen kann, mehr als ein bleibendes Werk verfasst. Hamlet gehört, natürlich auch aufgrund des weltbekannten Dramas des Dichters, den man „Shakespeare“ nennt, so dazu wie das schöne Stück über den Dichter selbst.Le songe d’une nuit d’été, uraufgeführt 1850, ist keine Opernfassung des Sommernachtstraums, sondern eine amüsante wie hübsch erfundene Geschichte, in der nicht allein ein Mann namens Falstaff, auch die Königin Elisabeth und ein Tenor auftritt, der bei Thomas und seinen Librettisten interessanterweise „Shakspeare“ heißt. Das kurze „e“ in „Shaks“ verrät übrigens mehr über den historischen Kaufmann in Stratford, als es einem Stratfordianer lieb sein kann, aber das nur nebenbei.

In der renommierten Reihe des Palazetto Bru Zane, die sich den unbekannten wie unbekannteren französischen Komponisten verschrieben hat, war Thomas noch kein Name. Mit der 45. Ausgabe der Reihe „Französische Oper“ hat man sich nun erstmals einem seiner Werke gewidmet: Psyché, uraufgeführt am 26. Januar 1857 in der Opéra-Comique. 21 Jahre später erlebte in Paris, an selber Stelle, eine zweite, stark überarbeitete Fassung ihre Uraufführung. Die Edition bietet nun weder die erste noch die zweite Fassung in Reinkultur, was möglich gewesen wäre. Im – wie üblich muss man auf die wie üblich sorgfältigen Aufsätze im wie üblich schönen, nicht zuletzt mit einer Komponistenbiographie von 1896 angereicherten Buch hinweisen –, im livret zur Opern-CD begründet Alexandre Dratwicki ausführlich, wieso man sich entschloss, eine Mischfassung einzuspielen, die die Tugenden beider Versionen vereinigt. Für Philologen dürfte dies ein Graus sein, für Opernfreunde, die es entspannter sehen (wie der Autor dieser Zeilen), bietet diese dritte Fassung der Psyché die Möglichkeit, den Mischstil, wie er bereits im Werk angelegt wurde, ganz und gar genießen zu können. Denn Thomas war in dem Sinn Kosmopolit, als er sowohl italienische als auch französische und vielleicht auch deutsche (Weber) Stilelemente ins Werk brachte, um doch etwas ganz Eigenes zu schaffen. Und Opernfreunde wie der Rezensent sind froh, überhaupt einmal die Psyché in einer guten Aufnahme zu hören.
Denn das süße Wörtlein „köstlich“ trifft es auch im Fall der Psyché. Henri Heugel bezeichnete 1878 Psyché als „un oeuvre forte et profonde qui ne se laisser pénétrer que par les amoureux de l’art, s’efforçant d’y appliquer les méditations auxquelles le compositeur a dú s’elever pour la concevoir“, auf Deutsch: um „ein kraftvolles und tiefgründiges Werk, das nur Liebhaber der Kunst verstehen können, die sich bemühen, die Meditationen anzuwenden, zu denen sich der Komponist erheben musste, um es zu konzipieren.“ Die Meinungen über die zweite Fassung waren allerdings geteilt: Fanden einige die Erstfassung mit ihrem für die Opéra-Comique „konzipierten“ Ton ideal, so lobten die anderen die Erweiterungen, die durch den Plan entstanden, das Werk von Neuem an der Opéra herauszubringen. Was herauskam, war eine Mischung aus Humor und Sentiment, Komik und Pathos; dass es auch in der neuen Fassung funktioniert, zeigt nur, dass Thomas sein Handwerk verstand. Abgesehen von einer Fülle von Melodien, einer farbigen, schon von Berlioz gelobten Instrumentation und einer interessanten, doch nicht exaltierten Harmonik, überrascht die Vollkommenheit, mit der beide Sphären vereinigt worden sind. Man möchte es ein dramma giocoso nennen – vor Allem aber ist es, wie Mignon und der Songe d’une nuit d’été, ein köstliches Werk. Es ist auch – und auch deshalb passt es glänzend in die Palazetto Bru Zane-Reihe – ein Werk, das nur mit einem französischen Wort, nicht mit seiner deutschen, also vergleichsweise trocken klingenden Übersetzung charakterisiert werden kann: Es ist ein Werk der elégance und des Charmes. Man ist schlichtweg bezaubert, wenn man sich den Sinn für eine denkbar „runde“ Musik bewahrt hat, die im Hörer geradezu nostalgische Gefühle auszulösen vermag.
Thomas’ Librettisten Jules Barbier und Michel Carré, die durch das Textbuch zu Gounods Faust unsterblich wurden, während Barbier die Contes d’Hoffmann auf der Grundlage des einst zusammen mit Carré geschriebenen Schauspiels schrieb, haben die bekannte Geschichte von Amor und Psyche mit einigen Figuren angereichert, die definitiv zur Gattung Komödie gehören. Gott Merkur, der im Auftrag der auf Psychés Schönheit eifersüchtigen Venus agiert, bekam von Thomas und seinen Librettisten einige Chansons und Couplets geschenkt, die nicht zufällig ein wenig an die zeitgenössischen Couplets eine Jacques Offenbach erinnern – ein wenig, weil Thomas’ Charme sich von dem des großen Satirikers denn doch unterscheidet. Greller wird es, wenn die beiden missgünstigen Schwestern der Titelheldin, die die schönen Namen Dafné und Bérénice tragen, nicht nur wesentlich weniger schön sind als die beneidete junge Dame, sondern ihrem Neid auch in witzigen Duetten Ausdruck geben. Dass ein Quartett an Rossini denken lässt ist ebenso wenig ein Zufall wie der thematisch ganz anders geartete, aparte Auftritt des Éros: mit Horn und Harfe. Entzückend ist auch das 1.Akt-Duett von Éros und Psyché, klanglich wunderbar die Tänze der Nymphen und die Hochzeitsszene vor der Katastrophe, die das lieto fine, mit Psychés Aufnahme in den Olymp, doch nicht aufhalten kann. Thomas schrieb den Nymphen eine luftig-leichte Musik in die Füßen und Kehlen, die der gleichsam göttlichen Sphäre der Liebesgeschichte nur angemessen ist, ja: Thomas hat mit der Psyché eine einzige Perlenkette schöner Stücke geschaffen, die die Begeisterung der Zeitgenossen nur zu verständlich macht. Erstaunlich bleibt, dass ein Mann, gegen den Giuseppe Verdi wie ein Sonntagskind anmutete, der also, vertraut man den Gemälden und Fotografien, mit einem extrem mürrischen Gesicht zur Welt gekommen zu sein scheint, eine derartige und im vollkommenen Sinn des Wortes heitere Musik schreiben konnte.
Glücklicherweise hat man für diese exzellente Oper auch eine exzellente Besetzung gefunden. Man weist im Buch auf die Veränderungen hin, die in der zweiten Fassung die Stimmen betrafen, auch auf die spezielle Tessitura des Éros, der mit der dunkel timbrierten Antoinette Dennefeld eine ideale Sängerin gefunden hat. Passend dazu der helle Sopran der Hélène Guilmette, die als Psyché der jugendlichen Leidenschaft ihrer Figur durch eine Beherrschung selbst der „ekstatischen“ Szenen einen wohlklingenden Ausdruck gibt. Die beiden neidischen, wohl auch hässlichen Schwestern (zumindest sind sie’s, nachdem sie die für Psyché bestimmte und von Venus geschickte Verhässlichungssalbe in ihre Visagen geschmiert haben) werden von Mercedes Mercuri und Anna Dowsley so spitz und doch klanglich ausgewogen gebracht, dass man bös wäre, würde man hier von „Rollendeckung“ reden. Koloraturen, die man der italienischen Oper entliehen hat, können sie im Übrigen Alle. Als komisch aufgelegter Götterbote Merkur tut Tassis Christoyannis mit seinem schön beweglichen Bass beste Dienste. Die beiden blöden Amanten der weird sisters werden von Artavazd Sagsyan und Philippe Estèphe gesungen: mit Vergnügen am Blödsein, aber auch mit vokalen Mitteln, die sie in den Soli wie den Ensembles als Vertreter sogenannter kleiner, aber nicht unwichtiger Partien ohrenschmeichelnd einbringen. Zuletzt muss Christoph Helmer genannt werden, die die Wurzen-Partie des majestätisch auftretenden Königs so perfekt artikuliert, wie man es von einer sonoren Majestät erwartet. Kommt hinzu der ausgezeichnete Ungarische Nationalchor. Kommt schließlich hinzu das Hungarian National Philharmonic Orchestra, das unter der Leitung von György Vashegyi den Franzosen Ambroise Thomas so idiomatisch spielt, dass die Frage nicht beantwortet werden muss, wieso eine erzfranzösische Oper (mit italienischen Einschlägen) bei einem italienischen Label mit einem ungarischen Orchester eingespielt werden musste, um endlich einmal in aller Schönheit wiederentdeckt zu werden.
Das Ganze ist eben, wie gesagt, schlicht und einfach köstlich.
Frank Piontek, 3. Dezember 2025
Psyché
Oper in drei Akten von Ambroise Thomas
Palazetto Bru Zane. French Opera 45
Hungarian National Philharmonic Orchestra
György Vashegyi