1. Dezember 2019
Kongenial: sie spielen, begleiten und singen!
Das Konzertprogramm: Antonin Dvořák (1841 – 1904) und Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) – sind sie Antipoden oder verbindet sie die musikalische historische Donaumonarchie?
Ein ungarisches Orchester aus Budapest, 1983 von Iván Fischer und dem Pianisten Zoltán Kocsis gegründet, mit dem Ziel unorthodoxe Ideen zu verwirklichen. Sie spielten für Kinder, Open-Air- Konzerte in Budapest, seit 2014 in ungarischen Synagogen, waren oft in Opposition zur ungarischen Regierung. Ihr Musikdirektor ist Iván Fischer, 1951 in Budapest geboren. Er stammt aus einer Musikerfamilie, die Großeltern wurden Opfer des Holocaust in Ungarn. Klavier-, Geigen- und Cellounterricht führten ihn über ein Kompositionsstudium nach Wien in die Dirigierklasse von Hans Swarowsky, die er absolvierte. Es folgte der Aufstieg zu Gastdirigaten mit Orchestern der Weltklasse.
Und schließlich Elisabeth Leonskaja, am 23. November 1945 (dem Tag der Heiligen Cäcilie, der Schutzherrin der Musik!) im georgischen Tiflis geboren als Tochter russischer Eltern – die Mutter war Jüdin. Mit elf Jahren gab sie ihr erstes Klavierkonzert, studierte ab 1964 am Moskauer Konservatorium bei Jacob Milstein, ihr großer Förderer war Swatoslaw Richter. Sie gewann internationale Wettbewerbe, lebt seit 1978 in Wien und ist Ehrenmitglied des Wiener Konzerthauses.
Diese phänomenale „Musikermischung“ gestaltete den Konzertabend und begann mit dem tschechischen Komponisten Antonin Dvořák, seiner Legende As-Dur op. 59/5. Bei Prag als Sohn eines Metzgers geboren ging er einen unkonventionellen Weg zum Musiker und Komponisten. Ein glücklicher Zufall ließ ihn Johannes Brahms kennenlernen, was zu einer lebenslangen Freundschaft wurde. Dieser vermittelte ihm von 1874 bis 1878 ein österreichisches Staatsstipendium und verhalf Dvořák 1877 zum Durchbruch, indem er sich bei seinem Verleger Fritz Simrock für ihn einsetzte. Brahms über Dvořák: „Der Kerl hat mehr Ideen, als wir alle. Aus seinen Abfällen könnte sich jeder andere die Hauptthemen zusammenklauben.“
Die Legenden für Orchester entstanden 1881, waren erst für Klavier zu vier Händen komponiert und dann orchestriert. Die Legende ‚Allegro giusto‘ ist keine programmatische Musik, sie beschreibt Gefühle, Liebe, Sehnsucht, Begeisterung, musiziert in ihrem besonderen Charakter mit intensivem Ausdruck. Man hört und sieht die Kontrabässe, die ihr Eigenleben haben und positioniert sind in der letzten Reihe des Orchesters. Sie schweben über allem mit ihren dunklen, satten Tönen.
Dann legen die Musiker ihre Instrumente beiseite, ergreifen die Chornoten und singen das „Wiegenlied“ op.29/2. Die Erwartungen der Hörer nach dem Gastspiel des vergangenen Jahres werden erfüllt: ein Orchester singt! Und das wunderschön in der weichen tschechischen Sprache, aus voller Kehle und Seele. Was hätte Brahms wohl gesagt? „Ein Teufelskerl dieser Dirigent, der seine Musiker singen lässt.“ Danach aus den „Slawischen Tänzen“ ‚Sousedska‘ As-Dur, op. 72/8, ein Bauerntanz im ¾ Takt, weckt auch Walzer-Assoziationen. So stellt man sich eben Dvořák vor, böhmisches Naturell verbunden mit der Liebe zur Natur. Daraus wird Konzertmusik, ohne die künstlerische Substanz des Volkstümlichen anzutasten.
Dann der grandiose Mittelteil des Programms: Ludwig van Beethoven, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73. Komponiert 1808/09, dem Erzherzog Rudolph von Österreich gewidmet, Uraufführung im November 1811 in Leipzig. Taubheit hinderte Beethoven daran, auch sein letztes Klavierkonzert als Solist zum ersten Mal zu spielen.
Hier und heute ist es Elisabeth Leonskaja, die russische Pianistin. „Beethoven spielen wir [russischen Pianisten] alle auf russische Weise, aber wir sind überzeugt davon, dass es irgendwie stimmt, weil unser Herz offen ist. Durch die Sprache bekommt man automatisch ein Gespür für lange Phrasen. Man spricht Beethoven.“ So betritt sie die Bühne quer durch das Orchester und beginnt.
Im ersten Satz unthematisch und quasi frei kadenziert – angekündigt durch einen mächtigen Tutti-Akkord des Orchesters, ein konzertantes Prinzip des Mit- und Gegeneinanders von Klavier und Orchester. Es entwickelt sich das charakteristische Doppelschlagmotiv. Dann übernimmt die Klarinette die Führung, es folgt eine verinnerlichte Zwiesprache zwischen den Holzbläsern und dem sie umspielenden Klavier. Um so gewaltiger der dynamische Ausbruch, wenn Solist und Orchester aufeinandertreffen: Punktierte Fortissimo-Blöcke und gehämmerte Klavier-Oktaven. Symphonisches und Virtuosität kommen hier zusammen.
Und Elisabeth Leonskaja, die diese Wunder vollbringt? Sie sitzt aufrecht, ruhig und souverän am Flügel. Swatoslaw Richter korrigierte der jungen Pianistin ihre „Unternehmungslust“, „man solle alles aus dem Notentext entwickeln“. Sie ist eine Meisterin der Tonalität, ihre Anschlagskultur wie Samt und Seide, aber auch der Doppelschlag. Die Geläufigkeit der Finger ist atemberaubend, spiegeln sich im Flügel und doppeln ihre Kunst. „Meine Heimat? Meine Muttersprache und die Musik.“ Das Publikum versteht und steht mit Beifall direkt vor der Bühne. Es gibt eine Zugabe für die Seele: W.A. Mozart, Adagio aus der Sonate F-Dur KV 332.
Elisabeth Leonskaja sagt, Musik ist ihr Leben: „Es ist meine heilige Pflicht, meinen Eltern und dem Leben gegenüber, wenn ich dieses Talent vom lieben Gott bekommen habe. … Wenn ich aufhöre, würde ich sofort krank. Musik ist Heilung.“ Hoffentlich darf ihr Publikum noch lange daran teilhaben.
Nach der Pause schließt sich der Kreis, Antonin Dvořák, Sinfonie Nr. 8 G-Dur op. 88. Die sogenannte „Englische“, die Dvořák in London 1890 selbst dirigierte. Er hatte sich kompositorisch entscheidend weiterentwickelt und so auch deutlich von Brahms entfernt. Dieser blieb sein Förderer und Freund, aber die ‚Achte‘ empfand er ungewohnt kritisch: „Zu viel Fragmentarisches, Nebensächliches treibt sich da herum. Alles fein, musikalisch fesselnd und schön – aber keine Hauptsachen! Besonders im ersten Satz wird nichts Rechtes daraus.“
Hier irrte Brahms. Antonin Dvořák entwickelte seit 1873 seinen eigenen nationalen Stil. Die slawischen Schaffensperioden (1876 – 1881 und 1886 – 1891) waren nicht mehr klassisch, sondern tschechisch-folkloristisch geprägt. Er nähert sich hier dem Charakter einer sinfonischen Dichtung, hält sich aber an die Form der Sinfonie. Celli und Bläser eröffnen feierlich, dann schiebt sich der volkstümliche Frohsinn dazwischen. Der 2. Satz Adagio zeichnet das Bild der Natur, das Scherzo ist eine Walzermelodie, die in der Coda in einen slawischen Tanz übergeht. Das Finale bringt Variationen der tschechischen Volksmusik hin zur Apotheose auf Heimat und Natur. Dvořák ist schon auf dem Weg in die Zukunft, in die Neue Zeit. Iván Fischer dirigierte auswendig, souverän mit allen Einsätzen, es schwingen die großen Bögen, die Solisten Fagott, Klarinette, Flöte, Horn, Trompete leisten das Beste, die Streicher glänzen präzise. Es ist eine Sternstunde!
Und der Hörer hat verstanden, dass dies alles zusammengehört und hofft auf eine Fortsetzung im nächsten Jahr. Dvořák und Beethoven, das Budapest Festival Orchestra mit Iván Fischer und Elisabeth Leonskaja am Flügel haben noch unendlich viel zu bieten!
Inga Dönges, 3. Dezember 2019
Bilder (c) Ivan Fische/Ákos Stiller, Elisabeth Leonskaja/Julia Wesely
Budapest Festival Orchestra/Proarte