Hohe Gesangskultur
Premiere am 5. Mai 2019
Zugegebenermaßen war ich ziemlich skeptisch, was das wohl für ein Tanzabend sein würde, der da jetzt Premiere im Großen Haus des Staatstheaters hatte. Bei dem Titel „Winterreise“ denkt man natürlich erst einmal an Franz Schuberts berühmten Liederkreis. Der war es schon mal nicht, sondern Hans Zenders „komponierte Interpretation“, eine Fassung für Sänger und kleines Orchester mit 25 Instrumentalisten, die sich inzwischen auf unseren Konzertpodien durchaus etabliert hat. In der 1993 entstandenen Komposition bleibt die Grundstruktur Schuberts Liederkreises erhalten. Manches wird durch Instrumentation und reichlich plakative Effekte (Windmaschine sowie Schlagwerk aller Art, das z.B. Schritte im Schnee markiert!) verstärkt, was zur Folge hat, dass die Gedichte Wilhelm Müllers noch mehr im Vordergrund stehen. Die Lied-Begleitung geschieht durch zwei Geigen, zwei Bratschen, ein Cello und einen Kontrabass; dazu kommen Schlagzeug und je zwei Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte sowie Saxophon, Horn, Trompete, Posaune, Harfe, Akkordeon und Gitarre. Diese Instrumente spielen meist in verschiedenen kammermusikalischen Gruppen, die schillernde Farben erzielen. Und dazu nun noch Tanz?
Ich wurde positiv überrascht: Durch die ausgezeichneten tänzerischen Leistungen des Braunschweiger Tanzensembles gab es einen höchst eindringlichen Premierenabend. Die Gefahr der Überinterpretation hatte der Braunschweiger Ballettchef Gregor Zöllig, der die Choreographien stets gemeinsam mit seinen Tänzerinnen und Tänzern erarbeitet, dadurch vermieden, dass er durch die Winterlandschaft mehrere „wandern“ lässt und dadurch Blicke ins Innere eines jeden Menschen ermöglicht, der mit dem Verlust einer großen Liebe fertig werden muss. Dazu hatte die Ausstatterin Imme Kachel mit einem am Bühnenhimmel schwebenden entwurzelten Baum (wie die entwurzelten Gefühle des Wanderers), Licht und glänzenden Seitenvorhängen eine Bühne geschaffen, auf der zunächst eine eisige, geradezu frösteln machende Atmosphäre entstand war, die sich erst zum „Lindenbaum“ freundlich aufhellte. Das romantische Motiv des Wanderns, das zugleich ins Innere, in Einsamkeit und am Schluss in tieftraurige Verlassenheit führt, bleibt im Zyklus durchgehend erhalten. Die Tänzerinnen und Tänzer stellten dies mit einer Kleidung, die Modernes mit zeitgeschichtlichen Ansätzen aus dem Biedermeier verbindet, so dar, dass sie sich meist nebeneinander bewegten, ohne die anderen zu beachten oder auf sie zu reagieren. Während der zwölf Lieder des ersten Teils gibt sich der Wanderer seinen Erinnerungen hin und trauert seiner verlorenen Liebe nach. In Zölligs Choreografie tauchen für die nun sieben Wanderer die Erinnerungen wie Geistererscheinungen hinter den Vorhängen auf. Die Wanderer umarmen ihre weiblichen „Erinnerungen“ durch die Vorhänge hindurch – ein stimmiges Bild, das in Erinnerung bleiben wird. In einer weiteren Szene sind die Gestalten hinter den Vorhängen verschwunden; dennoch scheinen die Wanderer von ihnen innerlich bedrängt zu werden. Es gelingt ihnen aber nicht, sich von ihren schmerzhaften Erinnerungen zu lösen; sie werden von diesen geradezu körperlich getrieben, was überaus eindringlich durch Körperzuckungen und unwillkürliche Bewegungen gestaltet wird.
Im zweiten Teil sind es 13 Tänzerinnen und Tänzer, die die Fantastereien des Wanderers wie die „Nebensonnen“, das Irrlicht in „Täuschung“ oder den ins Leere zeigenden „Wegweiser“, eindrucksvoll ausdeuten, wenn sie sich auch hier wieder in bewundernswerter Akrobatik meist ohne jeden Kontakt zum oder zur anderen nebeneinander her bewegen. Besonders beeindruckend war das Bild, wenn durch dreizehn Lichtkegel die Isoliertheit der Einzelnen symbolisiert wird.
Es war eine imponierende Gesamtleistung des Ballettensembles, sodass sich die Hervorhebung einzelner verbietet. Unendlich trauriger Gipfelpunkt auch dieser Winterreise ist im „Wirtshaus“ der Friedhof, auf dem es für unseren Wanderer keinen Platz gab, sodass er sich entschloss, mit dem „Leiermann“ weiter zu ziehen.
Matthias Stier, seit längerer Zeit in Braunschweig Garant für kultivierten Gesang, sang den „Zyklus schauerlicher Lieder“ (Schubert) mit weit gefächerter Ausdrucksskala. Sein stärker gewordener Tenor wies da, wo es hingehört, fast metallische Schärfe auf, um im Kontrast dazu oft in wunderbar sanftes Piano zurückzugehen. Ihm gelang mit bester Diktion und bestechender Intonation in allen Lagen eine tiefgehende Deutung des bedeutenden Liederkreises, die mit der tänzerischen Interpretation eine gelungene Einheit bildete.
Die musikalische Leitung hatte Samuel Emanuel, der die 25 Musiker, die die auch technisch hohen Anforderungen glänzend erfüllten, mit äußerst präziser Zeichengebung durch die anspruchsvolle Partitur führte und dafür sorgte, dass der Sänger stets kongenial unterstützt wurde.
Das Premierenpublikum im nur mäßig besuchten Haus bedankte sich mit lang anhaltendem, begeistertem Applaus, der sich bei Matthias Stier zu Ovationen steigerte.
Fotos: © Ursula Kaufmann
Gerhard Eckels 5. Mai 2019
Weitere Vorstellungen: 9.,12.,17.,26.31.5.2019 und 2019/20