WA am 25.3.2014
Mährisches Kolorit in universaler Erhöhung
An der Budapester Staatsoper am Andrássy út wurde nun die Inszenierung von Leos Janáceks „Jenufa“ aus dem Jahre 2004 wieder aufgenommen. Regie führte Attila Vidnyánszky, der derzeitige Generaldirektor des Nationaltheaters Budapest. Er konnte einmal mehr zeigen, dass dieses Meisterwerk Janáceks, wie der Dirigent des Abends, Domonkos Héja, im erfreulicherweise nun auch in wichtigen Teilen auf Englisch erscheinenden Programmheft sagt, „a terribly good piece“ ist, und zwar nicht nur musikalisch.
Vidnyánszky bezeichnet die „Jenufa“ als „a unique piece of art“ und will in seiner Interpretation auf der Basis der Realität der abgeschlossenen archaischen Gemeinschaft des mährischen Dorfes mit ihren Zwängen und moralischen Fixierungen das, wie er meint, sich dahinter verbergende Ausmaß einer griechischen Tragödie zeigen, indem er die Schicksale der Protagonisten auf eine universale Ebene erhöht. Das hat etwas von Lars von Triers Film „Dogville“ und gelingt dem Regisseur in der dramaturgischen Umsetzung in den einfachen, aber symbolträchtigen und stilvollen Bühnenbildern und Kostümen von
Bilozub Olekszandr mit ihrer rustikalen Ästhetik sowie mit starken SängerdarstellerInnen vorzüglich. Vidnyánszky interessiert die Frage, ob Schicksal vorgegeben, unausweichlich ist, oder ob der Mensch es beeinflussen kann. Sind wir hilflos dem Regelwerk der Skylla und Charybdis unserer Gesellschaft ausgeliefert, müssen gar die Bürde einer einmal begangenen Sünde hoffnungslos bis zum Ende tragen? Wer schafft es, sich mit seinem Schicksal auseinanderzusetzen, das Kreuz zu schultern und damit die Herausforderungen des Lebens mit dennoch erhobenem Kopf und Demut zu meistern? Dieser Ansatz zieht sich wie ein roter Faden durch die oft emotional stark berührende Produktion. Alle leben mit ihren Sünden und ihrer schweren, meist nicht bewältigten Vergangenheit und versuchen sich irgendwie aus dem Netz- und Räderwerk von Regeln und Zwängen zu befreien. Das im wahrsten Sinne des Wortes Fatale dabei ist, dass es erst des Todes eines kleinen Kindes bedarf, des einzig unschuldigen „Akteurs“, dass diese vermeintlich heile Welt kräftig durchgeschüttelt wird und die Konflikte offen ausbrechen.
Mària Temesi, die große ungarische Sieglinde und Brünnhilde und bei all ihren Auftritten einmal mehr mit enormer Bühnenpräsenz, steht als Küsterin zunächst als von allen ehrfürchtig akzeptierte Autorität dieser Regeln. Wenn sie zum ersten Mal – auch nur kurz – auf die Bühne kommt, wirken alle wie paralysiert, muss Laca ihr untertänig die Hand küssen. Großartig, wie die Temesi dann im 2. Akt in ihre eigenen tragischen Gewissensnöte kommt und sich mit ihrer ehemaligen Schülerin, Szilvia Rálik, eine außerordentlich intensive Auseinandersetzung liefert, wobei ihre hochdramatischen Qualitäten, ihre Expressivität aber auch die ganze Reife ihrer charaktervoll abgedunkelten Mittellage ausdrucksstark zum Tragen kommen. Temesi versteht es, mit intensiver Mimik und immer im Einklang mit der jeweiligen Aussage stehenden Bewegungen auf der Bühne alle Facetten dieser komplexen Rolle bis hin zur ultimativen menschlichen Tragik auszuspielen und am Ende klar werden zu lassen, dass auch sie ein Opfer geworden ist, aber kein böser Mensch.
Szilvia Rálik, die der Rezensent vor Jahren auf dieser Bühne als sehr gute Turandot erlebte, spielt die Jenufa depressiv. Man merkt von Beginn an, welche Last sie mit dem erwarteten Kind von Stewa zu tragen hat, angesichts dessen rüden Verhaltens, und der ihr immer wieder zuviel gute Miene zum bösen Spiel abverlangt. Rálik singt den großen Monolog im 2. Akt mit enormer Empathie und starkem emotionalem Ausdruck, und man nimmt ihr die große Erschütterung beim Verlust ihres Kindes in der Auseinandersetzung mit der Küsterin bewegt ab. Sie hat einen kraftvollen, leuchtenden Sopran, den sie sehr gut führt und der auch vollkommen höhensicher ist. Allerdings wirkt ihre Stimme, zumal nach der Turandot und der Salome, die sie auch singt, für die Jenufa streckenweise schon etwas zu schwer.
János Bándi legt den Laca sehr authentisch an, er ist der immer wieder zurückgesetzte Bewerber um Jenufa. Seine großen Gefühle für sie kann er äußerst glaubhaft und mit hoher Emotionalität vermitteln. Bándis durchwegs warm klingender, bestens intonierender und ins Heldische reichender Tenor kommt ihm dabei zugute. Großartig gelingt so die Intimität des Finales mit Jenufa, welches bei aller Schwere der nun zu tragenden Bürde auch viel Hoffnung macht. Hier muss Laca nämlich den letzten der Eisquader, den die Leute aus dem Fluss schnitten und auf der Vorderbühne aufstellten – in einem befand sich das tote Kind als kleiner Engel mit Kerze symobilisiert – obenauf auftürmen. Bei der schlagenden Finalmusik aus dem Graben bildet sich so ein Kreuz aus Eis! Es wirkt wie eine Absolution von aller Schuld. Der Vorhang fällt, bevor der Quader oben ist…
Atilla Kiss B. ist ein leichtfertiger Stewa mit ausdrucksstarkem Tenor und kräftiger Höhe, wenn auch nicht immer ganz klangschön. Auch er zeigt am Schluss, dass ihn die leichtfertige Ablehnung Jenufas wegen ihrer Entstellung schicksalhaft belasten wird. Éva Balatoni lässt als alte Buryja mit einigen guten Spitzentönen daran erinnern, dass sie hier einmal eine gute „Walküre“-Brünnhilde war. Die blutjunge Krisztina Simon singt die kurze Rolle der Karolka mit viel Lebendigkeit und einem glockenklaren Sopran – ein hoffnungsvolles Nachwuchstalent an der Budapester Staatsoper. János Gurban gibt einen klangvollen und eindringlichen Altgesell, und auch die weiteren Nebenrollen waren ansprechend besetzt. Der in der Choreografie von András Nádasdy bewegungsintensiv und dramaturgisch zielführend eingesetzte Chor sang auf hohem Niveau und wurde von Sipos Maté Szabo einstudiert.
Unter der sicheren Hand von Domokos Héja erklang Jánaceks glutvolle Partitur mit dem Orchester der Ungarischen Staatsoper in bester Harmonie mit dem Geschehen auf der Bühne und verstärkte ausdrucksvoll die große Emotionalität der Handlung. Höhepunkte waren die große Szene der Jenufa im 2. Akt und die später folgende der verzweifelten Küsterin, in denen das Orchester seine großen Qualitäten sowohl im Ausmusizieren feinster Lyrik wie auch in Momenten starker Dramatik unter Beweeis stellte. Ein guter Abend an der nicht ganz voll besetzten Ungarischen Staatsoper, der klar machte, dass „Jenufa“ „a terribly good piece“ und „a unique piece of art“
ist.
Klaus Billand 2.4.14
(www.klaus-billand.com)
Fotograf Attila Nagy