Der Brite Henry James mag Opernkennern durch seine Vorlage zu Brittens „The Turn of the Screw“ bekannt sein, seine Erzählung „Das Biest im Dschungel“ ist in Deutschland aber weitestgehend unbekannt. Der französische Komponist Arnaud Petit hat sich des Werks angenommen und eine intensive Opernadaption verfasst, die nun an der Kölner Oper ihre Uraufführung erleben durfte.
Der Abend beginnt intim. Regisseur Frederic Wake-Walker, der auch als eine Art Erzähler und Conférencier durch den Abend führt, begrüßt das Publikum, informiert über Notausgänge und bittet die Augen zu schließen. Wie aus dem Nichts sind auf einmal die ersten Klänge zu hören. Dem Publikum wird die zentrale Frage des Abends ganz persönlich gestellt: Gibt es jemanden, den Sie hätten lieben können? Denn genau um diese hochemotionale Frage dreht sich die literarische Vorlage. Es ist in keinster Weise mit Tigern, Lianen oder etwaigen Monstern zu rechnen – es ist das Biest, das im Dschungel der eigenen Gedanken und Gefühle scheinbar hinter uns her ist, das Biest, das sich aus Selbstverleugnung und Kurzsichtigkeit speist, das durch Sorgen und Ängste des eigenen Seins gemästet wird. In der Vorlage ist es John Marcher, der sich zeit seines Lebens sicher ist, dass ihm etwas Schreckliches widerfahren wird. Diese Sorge verhindert, dass er die schöne May, die ihn sein ganzes Leben immer wieder begleitet, zu sehr in sein Herz lässt. Am Ende muss er erkennen, dass das Schreckliche, das Biest, die Tatsache ist, dass er nie geliebt hat, dass er sich selbst den Weg in eine Einsamkeit gebaut hat. Arnaud Petit komponiert eine Musik, die überraschend harmonisch daherkommt. Man glaubt, Anklänge an Debussy zu hören, aber auch feine Jazzharmonien begleiten über weite Strecken in lyrischem Fluss gehaltene Singstimmen. Spannende Akzente setzen kurze, knarzend verzerrte Tonbandeinspielung, die dem Biest eine Stimme geben. Im unter Francois-Xavier Roth exzellent aufspielenden Gürzenich-Orchester finden sich neben Klavier und weitgefächertem Schlagwerk auch E-Gitarre und Saxofon, die Petit für raffinierte Klangfarben einsetzt und die manch impressionistisch angehauchten Passagen ein irisierendes Schweben verleihen.
Die beiden Protagonisten sind hervorragend besetzt. Miljekno Turk verfügt über einen wunderbar weichen Bariton, der das Fließen und Gleiten der Musik mit lyrischer Feinheit interpretiert und der im richtigen Moment auch mit Kraft gegen das Orchester geht, ohne es zu übertreiben. Spielerisch fühlt er seine Figur und lebt die innere Zerrissenheit, die Sorge, die Angst und Wut. Ihm gegenüber steht Emily Hindrichs als May. Herrlich ist es ihr zuzuhören, wenn sie ihren angenehmen Sopran durch die teils komplexen Anforderungen der Partitur führt. Alles ist bei ihr im Fluss, sie schwelgt in den Kantilenen, interpretiert ihre Partie mit viel Gefühl.
Die Inszenierung von Frederic Wake-Walker ist unglaublich reduziert und einfach gehalten, überzeugt aber gerade deswegen. Im Staatenhaus 3 steht eine riesige Fläche zur Verfügung, die aber nur von im Verhältnis dazu wenigen Zuschauern besucht werden kann. Diesen Reiz nutzt der Brite und verzichtet fast vollständig auf ein Bühnenbild. Die Spielfläche ist ein Rund, an dem an zwei Seiten Zuschauer sitzen, an einer Seite das Orchester, und diesem gegenüber stehen ein Overhead-Projektor, zwei semitransparente Spiegelwände und sonst fast nichts. Zwei Stühle werden für die Protagonisten bereitgestellt. Und das ist es schon. Was aber besticht ist, wenn die Akteure die Manege verlassen, wenn sie heraustreten, sich in diffusem Licht verlieren und die bis dahin überschaubaren Projektionen nun den Saal fluten.
Das ist hoch-atmosphärisch und lässt vergessen, dass die Dialogszenen zuvor auch hin und wieder ein paar Längen haben. Von berückender Schönheit ist letztlich der Schluss, wenn der Erzähler eine der semitransparenten Wände zwischen die beiden Protagonisten stellt und ein Bild entsteht, dass eine Art Verbindung beider in höhere Sphären zeigt, eine fast geisterhafte Liaison. Walker und seine Ausstatterin Anna Jones erschaffen hier mit einfachsten Mitteln ein zutiefst ergreifendes Bild, das eine ganz große Stärke dieses Abends unterstreicht: Die Reduktion. Es braucht keine phantastischen Aufbauten, es braucht keine Massen an Personal auf der Bühne. Dieser Abend konzentriert sich auf das, was in der Seele der Protagonisten passiert, was in unserer Seele passiert. Das ist intim, vertraut, das ist aufwühlend und macht nachdenklich.
Sebastian Jacobs, 17. April 2023
Oper Köln
La Bête dans la Jungle (Das Biest im Dschungel)
Oper von Arnaud Petit
Besuchte Uraufführung 14. April 2023
Inszenierung: Frederic Wake-Walkeres
Musikalische Leitung: Francois-Xavier Roth
Gürzenich Orchester Köln