Freiburg: „Der Schmuck der Madonna“

Premiere am 05.03.2016

Nach dieser zu Recht umjubelten Premiere im Theater Freiburg von Ermanno Wolf-Ferraris Ausflug in den Verismo mit seiner einstigen Erfolgsoper "I Gioielli della Madonna" bleibt kein Zweifel mehr:

DIESES WERK MUSS ZURÜCK INS STANDARDREPERTOIRE !!!

Es mag ZuschauerInnen geben, die an der zur Schau gestellten Drastik der "Blut-Sperma-Weihrauch" – Thematik (Ulrich Schreiber) Anstoss nehmen. Doch muss man das Werk auch unter dem Zeitgeist der Entstehungszeit bewerten (Freuds Psychoanalyse) und dem Umfeld anderer Erfolgskompositionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, etwa Puccinis TOSCA (Mord, Hinrichtung, Suizid) oder Strauss‘ SALOME (lässt den Täufer köpfen und küsst den blutigen Mund) und ELEKTRA (Anstiftung zum Muttermord, Ermordung des Geliebten der Mutter). Wenn man nun bei DER SCHMUCK DER MADONNA etwas tiefer gräbt – wie dies das Duo Kirsten Harms (Regie)/Bernd Damovsky (Bühne und Kostüme) in Freiburg getan hat – so entfernt man sich eben rasch von der realistisch-drastischen Oberfläche von Sex/Religion/Tod und stösst auf die komplexeren Themenkreise von krankhafter Obsession, unterdrückter Sexualität, Bigotterie, schamloser patriarchaler Begierde und ebensolcher Machtspiele, Abwertung der Frau zur Hure oder deren Hochstilisierung zur keuschen Jungfrau.

Harms/Damovsky haben zur Umsetzung ihres tiefenpsychologischen Konzepts auf einen realistischen Bühnenraum verzichtet und lassen die Handlung albtraumartig (und mit surrealistischen Elementen versetzt) in einem klinisch weissen Halbrund ablaufen, die Drehbühne wird erfreulich sparsam eingesetzt, die Kostüme (50er Jahre) verdeutlichen den Interpretationsansatz zum Teil überdeutlich. (Zum Beispiel die riesigen Kruzifixe, mit denen sich die Camorristi "schmücken"). Dem Inszenierungssteam (und auch dem Lichtdesign von Dorothee Hoff) gelingen immer wieder Szenen von beeindruckender Symbolkraft, so wenn Maliella von ihrem Freiheitsdrang singt und sich dabei einen Vogelbauer über den Kopf stülpt, wenn Gennaro und Maliella vor der sexuellen Vereinigung die frisch gewaschenen Kleider der Bräute Christi mit Füssen treten, wenn die bigotten Camorristi sich in der Höhle (hier Nachtclub) versammeln und sich wie auf Da Vincis Bild vom "letzten Abendmahl" um den Tisch gruppieren und dabei Spagetti fressend und aufgegeilt eine Stripperin begrapschen (um gleich darauf Maliella quasi zu exkommunizieren, nur weil sie keine Jungfrau mehr ist, da sie von ihrem Stiefbruder Gennaro missbraucht wurde).

Das stärkste Bild aber gelingt der Regisseurin im zweiten Akt: Gennaro sperrt seine Stiefschwester nicht in einem Gartenhaus ein, sondern fesselt sie auf einem Sanatoriumsbett, wirft ein schwarzes Netz über sie, in welchem sich die beiden beim Liebesakt verstricken, das Netz der beinahe widernatürlichen Begierde. Und mit diesem Netz der krankhaften Obsession über dem Kopf erscheint Gennaro auch im Nachtclub, befreit davon ist er erst bei seiner Selbsttötung zu Füssen der Madonna. Maliella hatte sich vorher schon selbst gerichtet, nachdem sie als "Entehrte" für den Anführer der Camorristi jeglichen Reiz verloren hatte. Eindrücklich und geschickt choreografiert waren auch die Volksszenen rund um die Marienprozession im ersten Akt (das Finale I ist sowieso auch musikalisch von überwältigender Gänsehaut-Emphase und ist dem Finale I aus TOSCA mehr als ebenbürtig!). Zu diesem grandiosen, atemberaubenden Gesamteindruck des ersten Bildes trugen der phänomenal singende Opern- & Extrachor des Theater Freiburg, die Studierenden der Hochschule für Musik und der exzellente, wunderbar rein und sauber singende Kinder- und Jugendchor des Theater Freiburg entscheidend bei (Einstudierung: Bernhard Moncado, Thomas Schmieger).

Die Besetzung der Maliella mit Elena Stikhina erwies sich als veritabler Glücksfall. Welch eine Stimme! Durchschlagkräftig, dabei stets warm timbriert bleibend und nie ins Schrille abdriftend, darstellerisch ein furioser Wirbelwind, von der aufreizenden Tarantella über den (beinahe inzestuösen) Liebesakt bis zum verzweifelten Suizid auf dem Abendmahlstisch. Mit überaus klangschönem, bruchlos und sicher geführtem Tenor wartete Hector Lopez-Mendoza als Gennaro auf. Auch in Fortissimo-Ausbrüchen drohte sein Timbre nie ins Weinerliche zu kippen, blieb viril und doch spürte man die ungeheure Verletzlichkeit seiner Seele, das Hadern mit seiner sexuellen Obsession.

Kartal Karagedik als Camorra-Boss Rafaele hingegen haderte gar nicht mit seiner Sexbesessenheit, strotzte vor Selbstbewusstsein und Sexappeal. Stimmlich schien er in den ersten beiden Akten (Premierennervosität?) noch etwas zurückhaltend, neben den gross auftrumpfenden Stimmen von Stikhina und Lopez-Mendoza wirkte er volumenmässig zu dünn, doch im dritten Akt lief auch er zu ganz grosser Form und überzeugendem stimmlichen Format auf. Anja Jung begeisterte einmal mehr mit ihrem satten, fantastisch ausdrucksstarken Alt als Mutter Carmela. Wenn so eine Besetzung für diese Partie aufgeboten werden kann, bedauert man umso mehr, dass die Librettisten und der Komponist die Rolle nicht umfangreicher angelegt und wenigstens um eine Soloszene für sie erweitert hatten. Stimmlich und darstellerisch ganz wunderbar war auch der Auftritt der drei "leichten" Mädchen Concetta, Serena und Grazia (Susana Schnell, Silvia Regazzo, Amelie Petrich) im Nachtclub, die Besetzung der solistischen Rollen innerhalb der Camorristi und des Volkes. Aufreizend und agil tanzte die Stripperin (Saskia Motschall) beim „Abendmahl“ und der Strassenclown Pazzariello (Fabian Flender) überraschte mit virtuosen Tricks.

Packend vom tumultartigen Auftakt über die zart und mit immenser Innigkeit gespielte Introduktion zum zweiten Akt (immerhin diese fünf Minuten der Partitur sind bis heute ein beliebtes Konzertstück geblieben) bis zum so unheimlich weich und traurig verklingenden Ende – zu dem passend zur Musik die Bühne langsam in abgestuften Grautönen erstarrt – spielte das Philharmonische Orchester Freiburg die schwelgerische, mit spätromantischer Klangfülle aufwartende Musik Wolf-Ferraris. Der wunderbar zügig und doch mit grosser Eindringlichkeit und klanglicher Transparenz die abwechslungsreich komponierte Partitur auslotende Dirigent Fabrice Bollon und das Orchester lieferten mit dieser Interpretation ein überzeugendes Plädoyer für diese Ausgrabung einer hoch spannenden Oper, die man sich gerne ein weiteres Mal anschaut und anhört!

Kaspar Sannemann 7.3.16

Bilder siehe unten / 1. Kritik !

REDAKTIONS-TIPP

Bitte hören Sie sich dieses wunderschöne Intermezzo an