Bericht von der Premiere am 4. September 2021
Die Kritik zur Eröffnungspremiere hat Intendantin Cathérine Miville beim Schlußapplaus gleich selbst geliefert. Spürbar hingerissen und ergriffen brachte sie nicht nur ihre Begeisterung über einen im Schachbrettmuster gut besetzten Zuschauerraum zum Ausdruck, sondern schwärmte auch von grandioser Musik, phantasievollem Bühnenbild samt Kostümen und einer eindringlichen Inszenierung. Vom OPERNFREUND kommt dazu kein Widerspruch. Einige Fußnoten müssen gleichwohl gesetzt werden.
Mit Benjamin Brittens Rape of Lucretia setzt das Gießener Stadttheater seinem Publikum anspruchsvolle Kost zum Saisonstart vor. Man merkt es zu Beginn, daß das Publikum mit den spröden, schroffen Klangfarben der ersten Szene fremdelt. In einem Feldlager besaufen sich Offiziere und machen derbe Späße über die Tugendhaftigkeit der zu Hause gebliebenen Ehefrauen. Bühnen- und Kostümbildner Lukas Noll hat dafür das Setting von der Antike in die Gegenwart verlegt. Die Soldaten tragen moderne Kampfanzüge. Das Ganze findet im Innern eines geschlossenen Raumes statt, in dem aber ein Zelt aufgebaut ist. Ein wenig wirkt es wie ein Spiel von groß gewordenen Kindern, die im Wohnzimmer ein Feldlager nachstellen.
Die zweite Szene soll dann in einem Patrizierhaus in Rom spielen, aber es sieht dem Raum der ersten Szene verdächtig ähnlich. Beim nächsten Szenenwechsel erkennt man, daß dahinter ein raffiniertes Spiel des Produktionsteams steckt: Bühnenbildner Noll hat auf der Drehbühne des Hauses eine Abfolge von in der Grundanlage immer gleichen Räumen gebaut, welche mit variierenden Requisiten angereichert quasi ein Feststecken, ein Auf-der-Stelle-Treten ausstellen. Schon vor der eigentlichen Handlung zeigt die Regie (Christian von Götz) vor dem Vorhang eine gequälte, traumatisierte Frau. Die Vergewaltigung aus dem Operntitel, altertümlich „Schändung“ genannt, wird als Fluchtpunkt des Stückes überdeutlich herausgestellt. Auch im weiteren Verlauf tut das Inszenierungsteam in seinem Willen zur Verdeutlichung des Guten mitunter zuviel. Wo das Textbuch mit den Mitteln des epischen Theaters Distanz erzeugen will und eine dem Zuschauer des 21. Jahrhunderts fremde Umdeutung der antiken Grundhandlung zu Zwecken der christlichen Heilsgeschichte vornimmt, versucht die Regie die Ungeheuerlichkeit einer Vergewaltigung noch zu steigern: Lucretia wird als hochschwanger dargestellt. In ihrer ersten Szene wird das Kinderzimmer für das Ungeborene in freudiger Erwartung hergerichtet. Die Vergewaltigung, die gemäß dem Textbuch bewußt nicht auf offener Bühne dargestellt wird, führt in der Gießener Deutung zu einer Fehlgeburt. Ein blutiger Haufen Fleisch wird in einem gläsernen Behältnis entsorgt. Diese bemühte Potenzierung der Drastik eines ohnehin schwer erträglichen Vorgangs ist unnötig.
Die Inszenierung überzeugt dagegen überall da, wo sie der Vorlage vertraut und sich handwerklich tadellos auf die Charakterisierung der handelnden Figuren und das Herauspräparieren innerer Vorgänge konzentriert. Dabei gelingen eindringliche Bilder, etwa wenn der Schänder bei seinem Eintreffen im Haus der Lucretia mystifizierend als Tierwesen dargestellt wird, das einem heidnischen Götzen gleich einen Thron besteigt.
Der Einsatz der beiden Erzähler (ein männlicher und ein weiblicher „Chorus“) überzeugt ebenfalls, nicht zuletzt weil man mit Bernhard Berchtold und Anna Gabler zwei herausragende Sängerdarsteller aufbieten kann. Berchtold verfügt mit seinem hellen, gut fokussierten Tenor über eine geradezu ideale Britten-Stimme in der Nachfolge von Peter Pears. Mit lebendiger Diktion weiß er das Publikum zu fesseln. Anna Gablers expressiver Sopran fügt sich zu der herausgehobenen Funktion, welche die Regie ihr zugedacht hat. Über die Aufgabe als mit dem Male-Chorus gleichberechtigte Erzählerin und Kommentatorin spiegelt sie das Trauma der Titelfigur, nimmt es vorweg und durchleidet es mit ihr.
Kleine Häuser wie das Stadttheater Gießen sind bei Kammeropern in ihrem Element. Das zeigt sich gerade auch bei Benjamin Brittens „Rape of Lucretia“. Die Partitur verlangt ein schmales Kammerorchester von nur 13 Musikern und doch läßt der Komponist durch ungewöhnliche Kombinationen und geschickte Mischungen der Instrumentalfarben faszinierende Klanggebilde entstehen, die an keiner Stelle ein üppiger besetztes traditionelles Orchester vermissen lassen. Die Gießener Musiker, die allesamt solistisch im Einsatz sind, fächern die Partitur unter ihrem jungen Generalmusikdirektor Florian Ludwig tadellos auf. Nach etwas tastendem Beginn entsteht aus dem Orchestergraben heraus ein unwiderstehlicher Sog, der das Publikum mehr und mehr in seinen Bann schlägt. Im Schlußapplaus gibt es für diese überzeugende Leistung ungeteilte Zustimmung.
Die Titelpartie kleidet Evelyn Krahe in dunkel-samtige Alttöne ein. Die von ihr vermittelte abgrundtiefe Verzweiflung nach der titelgebenden Gewalttat rührt ans Herz. Mit dem voll und rund strömenden Mezzo von Sofia Pavone als Amme und dem jugendlich-frischen Sopran von Anna Magdalena Rauer als Dienerin ergeben sich in Ensembleszenen die für Britten typischen bitter-süßen Klangmischungen. Keineswegs als eindimensionalen Gewaltmenschen zeichnet Grga Peros den Tarquinius. Läßt er beim Saufgelage des Beginns seinen kernigen Bariton noch situationsgerecht ungehobelt dröhnen, gewinnt er ihm später gegenüber Lucretia derart sonor-schmeichelnde Töne ab, daß man es einen Moment lang für möglich halten würde, ihm könnte die Verführung der ihrem Gatten treuen Frau ganz ohne Einsatz von Gewalt gelingen. Dieser, der römische General Collatinus, wird vom Baßbariton Christian Tschelebiew eher zurückhaltend interpretiert. Als dritter Bariton hebt sich Kay Stiefermann als Junius von den beiden anderen mit einer charakteristischen Schärfe in der Stimme ab.
Die stellenweise Überdeutlichkeit der Inszenierung mit etwas wohlfeilen Aktualisierungstendenzen trübt den starken Eindruck eines fesselnden Musiktheatererlebnisses nicht wesentlich. Wieder einmal lohnt der Weg nach Gießen, um eine Repertoirerarität in einer qualitätvollen Produktion zu erleben.
Weitere Vorstellungen gibt es am 7. und 24. Oktober sowie am 14. und 27. November.
Michael Demel, 26. September 2021
Bilder: Rolf K. Wegst