Graz: „Roméo et Juliette“

5. 10.2019 (Wiederaufnahme aus der Saison 2016/17 mit neuer Besetzung)

Neue Protagonisten- neue Qualität!

Eine erwähnenswerte Koinzidenz – wenn auch sicher nicht deswegen so disponiert:

Die Oper Graz eröffnete vor einer Woche sehr erfolgreich die neue Saison mit Verdis Don Carlo (siehe unten den Bericht), und die erste Grazer Opernproduktion danach ist Gounods Roméo et Juliette – zwischen den Uraufführungen der beiden Werke lagen nur 6 Wochen! Die französische Urfassung des Don Carlos wurde am 11. März 1867 in Paris uraufgeführt – Roméo et Juliette am 27. April 1867, beide in Paris in den damals konkurrierenden Opernbühnen in der Salle-Le-Peletier und im Théatre-Lyrique. Im immer noch unverzichtbaren Nachschlagewerk von Dieter Zöchling liest man über die Don-Carlos-Uraufführung: Die musikalisch anfechtbare Uraufführung wird eher kühl aufgenommen. Hingegen heißt es Gounod brilliert mit ‚Romeo und Julia‘

Nun: Paris hatte im 19. Jahrhundert vier miteinander im Wettstreit liegende Operntruppen. Graz hat natürlich nur ein Opernhaus – aber dafür wurden in den beiden Produktionen nach dem Stagione-Prinzip zwei völlig verschiedene Solistenbesetzungen aufgeboten. Niemand – auch nicht bei den Nebenrollen – trat in beiden Opernproduktionen auf. Die Leistungsfähigkeit der Oper Graz wurde damit einmal mehr eindrucksvoll dokumentiert. Und noch dazu ist die Gounod’sche Wiederaufnahme der drei Jahre alten Produktion nicht nur in den beiden Titelrollen, sondern auch in wesentlichen weiteren Partien neu besetzt. Man konnte also gespannt die Wiederaufnahme besuchen und kann ein erfreuliches Resümee ziehen:

Die neuen Protagonisten haben die Produktion auf ein qualitätsvolles Niveau gehoben!

Lassen Sie mich diesmal mit dem Dirigenten beginnen: Marius Burkert ist seit über 10 Jahren in Graz und hat in bester Kapellmeistertradition die Musik von Gounod mit den gut disponierten Grazer Philharmonikern zum Klingen gebracht. Wenn es einmal – wie etwa zu Beginn des 4. Aktes bei der Rezitativbegleitung – kleine rhythmische Unebenheiten gibt, dann gleicht Burkert das mit Routine sofort aus. Er lässt den Solisten genügend Zeit zum Phrasieren und Atmen, holt schöne Solopassagen aus dem Orchester heraus, er lässt den melodischen Fluss unmanieriert dahinströmen, sorgt aber auch für die nötige rhythmische Delikatesse. Natürlich hatte er das Glück, dass ihm ein neues und wirklich sehr gutes Titelpaar zur Verfügung stand.

Die Russin Katerina Tretykova hatte die Rolle der Juliette schon vor über 10 Jahren beim Young Singers Project bei den Salzburger Festspielen erarbeitet und seither an mehreren Bühnen (darunter auch als Zweitbesetzung in Graz) gesungen. Sie beherrscht die Partie souverän sowohl in den Koloraturen als auch in den lyrischen Phrasen und ist außerdem eine überzeugende Darstellerin. Graz kann sich freuen, dass sie im Frühjahr in der Don-Giovanni-Neuinszenierung die Donna Anna übernehmen wird. Mit Recht stand sie am Ende im Mittelpunkt des Beifalls. Ihr Roméo war der mexikanische Tenor Jésus Léon . Auch er hatte die Partie bereits mehrfach gesungen, zuletzt im Vorjahr an der Opéra de Nice (hier ein Ausschnitt aus dem Finale). Léon phrasiert stilgerecht und hat sichere Höhen. Aber auch rund um das Titelpaar gab es sehr solide neue Besetzungen: etwa Wilfried Zelinka als profunder Bruder Laurent, Ivan Oreščanin als getreuer Mercutio, Christina Baader als wohltönende Gertrude, David McShane als Respekt einflößender Herzog, Szymon Komasa als sonorer Paris sowie die offenbar ganz kurzfristig eingesprungene Antonia Cosmina Stancu, die mit schönem Stimmmaterial als zum Dienstmädchen mutierter Stéphane aufhorchen ließ. Dazu kamen von der ursprünglichen Besetzung

Markus Butter als profilierter Graf Capulet, Taylan Reinhard als scharfstimmiger Tybalt, Martin Simonovski als sicherer Grégorio und Martin Fournier als prägnante Dienerfigur.

Klug löste man die Ballettszenen: ein Tanzpaar „spiegelte“ schon während das Vorspiels Romeo und Julia – ausdrucksstark Stephanie Carpio und Philipp Imbach. In die Hofgesellschaft wird eine dominant-strenge Fürstin eingefügt, die sich am Ende für Julia zu einer albtraumhaft-bedrohlichen Gestalt entwickelt. Diese Rolle gestaltete die Choreographin des Abends und Grazer Ballettchefin Beate Vollack selbst mit gebührendem Nachdruck.
Ein besonderes Lob ist neuerlich Chor und Extrachor (Leitung: Bernard Schneider) zu zollen. Das war nach dem Don Carlo die zweite Produktion mit großen Choraufgaben – und auch diesmal wurde die große Aufgabe sehr gut bewältigt.

Meine Einwände gegen die Inszenierung bleiben bestehen: Der Regisseur und Bühnenbildner Ben Baur hat gemeinsam mit seiner Kostümbildnerin Uta Meenen das Stück vom Verona des 15. Jahrhunderts in das viktorianische England des ausgehenden 19. Jahrhunderts verlegt und sich primär darauf beschränkt, illustrative Stehbilder auf die Bühne zu bringen. Mir erschloss es sich nicht, ob und welche Bereicherung oder Weiterentwicklung des Romeo/Julia-Dramas diese zeitliche Verlegung mit sich bringt. Es gab stereotype Auf- und Abmärsche des in einheitliches Schwarz-Weiß gekleideten Hauspersonals, es gibt viele Tische, die ständig verschoben werden, und es gibt viele Kerzen. Auf und unter diesen Tischen begegnen einander Roméo und Juliette, wenn sie sich nicht gerade an eine Säule klammern oder dahinter verbergen.

Aber ich räume gerne ein, dass sich beim zweiten Besuch dieser Inszenierung ein wesentlich geschlossenerer Gesamteindruck ergab als bei der Premiere vor drei Jahren. Das mag vor allem an den sehr guten musikalischen Leistungen liegen, aber durchaus auch ein Verdienst der jungen Regieassistentin Juana Inés Cano Restrepo sein, die in der letzten Zeit durch mehrere eigenständige Regiearbeiten aufgefallen ist und die szenische Einstudierung der Wiederaufnahme übernommen hatte. Mir schien die gesamt Aufführung wesentlich gestraffter.Die albtraumartigen Bilder des 4. und 5. Aktes machten jedenfalls Eindruck und hielten das Publikum in Spannung.

Ärgerlich bleiben nach wie vor so manche Details: Warum die Figur von Roméos Knappen Stéphano im 2. Bild des dritten Aktes in eine weibliche Dienstbotenfigur verwandelt wird, ist völlig unklar. Der Knappe singt ein Spottlied auf die Capulets und löst damit die tödlich endenden Kämpfe Mercutio – Tybalt – Roméo aus. Warum wird das durch diese Dienstbotentransformation völlig verharmlost und unverständlich?? Ein weiteres Detail: Das Programmheft schreibt völlig richtig zum 5. Akt: Roméo erreicht die Nachricht, dass seine Geliebte nicht tot ist, sondern nur schläft, nicht mehr rechtzeitig. Allerdings ist diese Szene mit Bruder Laurent gestrichen, sodass der Selbstmord von Roméo unlogisch bleibt …… und da ließe sich noch mancherlei aufzählen!

Aber wie auch immer: diesmal war es vor allem kraft der musikalischen Interpretation ein spannender Opernabend, der mit reichem Beifall bedacht wurde.

Hermann Becke, 6. 10. 2019

Szenenfotos: Oper Graz © Werner Kmetitsch

Hinweis:


Im Oktober fünf weitere Vorstellungen


Die Oper Graz geht mit ihren jungen Damen im Programmheft (und teils auch auf der Website) ein wenig lieblos um: Juana Inés Cano Restrepo hat sehr erfolgreich die szenische Einstudierung der Wiederaufnahme übernommen, sie steht zwar auf dem Programmzettel, aber sie fehlt leider bei den Künstlerbiographien. Sie findet man aber zumindest hier auf der Website der Oper Graz. Über Antonia Cosmina Stancu hingegen, die ganz kurzfristig die Rolle des Stéphano übernommen hatte und die seit dieser Saison neu im Opernstudio ist, findet man weder im Programmheft noch auf der Website etwas. Also sei dies im Sinne der Nachwuchsförderung gerne nachgeholt: Hier gibt es Informationen über die bei Wettbewerben mehrfach ausgezeichnete 26-jährige rumänische Mezzosopranistin und hier kann man sie in einem Wettbewerbsfinale des letzten Jahres als Eboli erleben.