Premiere: 15.06.2019, Wiederaufnahme: 14.09.2019
Auch nach über 100 Jahren noch aktuell
Im Jahr 1891 veröffentlichte Frank Wedekind das gesellschaftskritische Drama „Frühlings Erwachen“, welches die Geschichte mehrerer Jugendlicher erzählt, die in Ihrer Pubertät mit den großen Problemen auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen auf eine Wand von gesellschaftlicher Intoleranz stoßen. Durch das Ignorieren dieser Probleme, von kleineren schulischen Problemen bis hin zu sexuellen Gefühlen über die nicht gesprochen werden darf, wächst die psychische Instabilität der jungen Leute spürbar an. Dass dies verstärkt durch starken Leistungsdruck durchaus ernsthafte Folgen nach sich zieht, kann daher nicht verwundern. Nachdem das Bühnenstück im November 1906 in einer deutlich zensierten Version an den Berliner Kammerspielen seine Uraufführung feierte folgte im Jahr 1923 die erste Verfilmung des Stoffes. Ungefähr zur gleichen Zeit fand auch erstmals eine unzensierte Aufführung des Werkes statt. Fast ein Jahrhundert nach der Uraufführung des Schauspiels fand am New Yorker Off-Broadway im Mai 2006 die Premiere eines Musicals statt, welches auf Wedekinds Drama basiert. Die Musik stammt von Duncan Sheik, das Buch von Steven Sater. Die in Hagen gespielte gelungene deutsche Übersetzung wurde von Nina Schneider für die deutsche Erstaufführung am 29.06.2011 in München entwickelt, zuvor wurde das Musical bereits in einer anderen Übersetzung am Wiener Ronacher erstmals in deutscher Sprache uraufgeführt.
In Amerika wechselte das Werk innerhalb von wenigen Monaten an den Broadway und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter u. a. acht Tony Awards, vier Drama Desk Awards und einen Grammy. Besonders zu Gute kam dem Musical dabei sein Aufbau, bei dem der Zuschauer auch heute noch mit den Jugendlichen aus einer längst vergangenen Zeit zum Ende des 19. Jahrhunderts mitfühlen kann. Während die Sprechtexte sich entlang der Vorlage von Wedekind durch die eigentliche Geschichte bewegen, treten die Darsteller durch die Songs immer wieder heraus und stellen hier ihre eigenen Gedanken dar. Besonders beachtenswert ist auch die Tatsache, dass dies in diesem Musical lediglich den jungen Menschen vorbehalten ist, den Erwachsenen fehlt diese Fähigkeit. Die Lieder treiben somit nicht die Handlung voran, sondern schaffen eine besondere Nähe zu den Gefühlen der Protagonisten. Hierbei wird deutlich, dass viele Probleme von damals, auch heute noch aktuelle Probleme der Jugendlichen unserer Zeit sind. Sacha Wienhausen greift dies mit seiner Inszenierung geschickt auf, in der die Schüler einer nicht näher bezeichneten Schule der heutigen Zeit Wedekinds „Frühlings Erwachen“ als Theaterstück aufführen. Dabei ist die Trennung von Schüler und übernommener Rolle am Anfang noch klar erkennbar, vieles wird von den Mitschülern belächelt oder die jeweilige Rolle wird noch nicht ganz ernst genommen. Im Verlauf des Abends verwischen die Grenzen aber zusehends und die Schüler identifizieren sich komplett mit den übernommenen Charakteren.
Dies setzt Wienhausen zusammen mit Anja Schöne, die sich für die Schauspiel-Regie verantwortlich zeichnet, exzellent und handwerklich sehr geschickt um. Da für dieses Werk fast ausschließlich junge Darsteller benötigt werden, setzt das Theater Hagen seine erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Hochschule Osnabrück fort und beweist einmal mehr, dass es auch in Deutschland sehr talentierten Nachwuchs in diesem Bereich gibt. In den drei Hauptrollen überzeugt Johann Zumbült als Klassenprimus Melchior Gabor, der vom Geist der Aufklärung beflügelt gegen das Establishment auflehnt genauso wie Isabell Fischer als Wendla Bergmann, die auf Grund fehlender Aufklärung durch Ihre Mutter ungewollt von Melchior schwanger wird und Sebastian Jüllig als Moritz Stiefel. Letzterem gelingt es exzellent die inneren Sorgen und Nöte mit einem detaillierten Schauspiel auf die Bühne zu bringen. Auch die weiteren Rollen sind allesamt stimmig besetzt, stimmlich fällt hier Vera Lorenz als Ilse noch sehr positiv auf. Unterstützt werden die Darsteller vom Ballett des Theaters Hagen und Anne Schröder und Ralf Grobel, die sämtliche Erwachsenenrollen übernehmen.
Obwohl das Werk oftmals den Zusatz „Das Rock-Musical“ trägt, ist die Bandbreite hier doch etwas größer anzusetzen und bezieht ebenso Pop- wie auch Punk-Rock-lastige Nummern ein. Auch gefühlvolle Lieder kommen nicht zu kurz, hier kommt Duncan Sheik seine erfolgreiche Tätigkeit als Singer-Songwriter sicher zu Gute. Die sechs Musiker aus dem Philharmonischem Orchester Hagen samt Gästen bringen die Partitur unter der musikalischen Leitung von Dan K. Kurland kraftvoll auf die Bühne. Alfred Peter sorgt als Ausstatter für eine geschickte Bühne in der Schulaula, bei der sich hinter dem Vorhang immer wieder neue Orte ergeben. Dem Theater Hagen ist mit diesem Musical erneut ein sehr sehenswerter Musicalabend gelungen, der mit einem großen Applaus für alle Darsteller endete. Lediglich die Zuschauerzahl stimmt etwas traurig. Sind die Menschen in Hagen oder dem erweiterten Einzugsbereich wirklich nicht mehr der Lage richtig gutes modernes Musiktheater zu erkennen? Hier wäre es wünschenswert, dass die weiteren 5 Vorstellungen bis zum Jahresende etwas mehr Zuspruch erfahren würden, von mir gibt es daher eine klare Besuchsempfehlung.
Markus Lamers, 15.09.2019
Bilder: © Klaus Lefebvre