Premiere: 18.3.2017
Kommensurabel für Erwachsene wie für Jugendliche
Wenn ein kleines, zudem extrem gefährdetes Theater wie das von Hagen in einer Spielzeit gleich zwei Werke des aktuellen Musiktheaters präsentiert, ist kaum ein Wort des Lobes zu hoch. Intendant Norbert Hilchenbach wird im Juni HK Grubers „Geschichten aus dem Wiener Wald“ zu seinem Abschied inszenieren, jetzt gab es mit „Tschick“ von Ludger Vollmer sogar eine veritable Uraufführung. Zu dieser kam es nicht von ganz ungefähr, denn auch Vollmers Opern „Gegen die Wand“ und „Lola rennt“ wurden in Hagen aufgeführt. In dieser Saison ist Vollmer überdies „Komponist für Hagen“, kommt also auch bei Konzerten des Philharmonischen Orchesters zu Ehren.
„Tschick“ ist ein Erfolgssujet sondergleichen. Der Roman von Wolfgang Herrndorf wurde sogar zur allgemein verbindlichen Schullektüre erkoren, überdies zu einem der meistgespielten Theaterstücke umgeformt (Autor: Robert Koall) und von Fatih Akin auch verfilmt. Auslöser für Herrndorfs Roman war das Wiederlesen von Büchern seiner Jugend, nicht zuletzt von Mark Twains „Huckleberry Finn“. Herrmdorf wollte gemäß einem FAZ-Interview „herausfinden, ob sie wirklich so gut waren, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber auch, um zu sehen, was ich mit zwölf Jahren eigentlich für ein Mensch war. Und dabei habe ich festgestellt, dass alle Lieblingsbücher drei Gemeinsamkeiten hatten: schnelle Eliminierung der erwachsenen Bezugspersonen, große Reise, großes Wasser.“ Das Wasser ersetzte Herrndorf in „Tschick“ durch Straßen, welche sein Titelheld mit Freund Maik in einem geklauten Wagen abenteuerlustig befahren.
Diesem Roman folgte noch eine Fragment gebliebene Fortsetzung („Bilder deiner großen Liebe“), welche allerdings erst nach dem Tod des Autors erschien. 1965 geboren, wählte Herrndorf 2013 den Freitod, weil er mit der Diagnose eines unheilbaren Gehirntumors nicht weiterleben wollte. Ein wenig Traurigkeit prägt auch den Roman, doch im Wesentlichen ist er das Hohelied auf eine Glücksfindung von Menschen, auch wenn diese auf misstrauisch beäugten Nebenpfaden stattfindet.
Maik und der Russland-Aussiedler Tschick gelten in ihrer gemeinsamen Schulklasse als Außenseiter. Kein Mobbing, aber mitleidslose Ausgrenzung. In seinem Elternhaus findet Maik keinen Rückhalt, welcher dem Pubertierenden gut täte. Der Vater ist ein Choleriker, die Mutter alkoholabhängig. Letzteres macht Maik irgendwann sogar in der Schule publik und gilt seitdem als Weichei und „Psycho“. Dieses Detail fehlt in der Oper übrigens wie die Tatsache, dass auch Tschick gerne mal einen über den Durst trinkt. Aber das tut dem Nachvollzug der von Tina Hartmann eingerichteten Handlung keinen Abbruch. Überhaupt muss nicht alles mit akribischer Logik ins Visier genommen werden. Dass in der 11. Szene das Oberhaupt einer rein weiblichen Familie, Frau Friedemann, verdreifacht wird, vermag nicht einmal der Komponist wirklich plausibel zu begründen. Es sei eine Entscheidung „aus dem Bauch heraus“ gewesen, so Vollmer in der Einführung vor der Premiere.
Die „Botschaft“ des Romans bleibt in der Oper so oder so eindeutig ein Loblied auf das alternative Leben, unbelastet von zivilisatorischen Regularien, von dem ständigen Insistieren, dass der Mensch im Grunde nur schlecht sei. Maik: „Das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.“
Nun, ganz so leuchtend positiv muss man das Leben freilich nicht sehen. Kriminalstatistiken, Drogenszene u.a. sind – jedenfalls in der Oper – als Zeitprobleme ausgeblendet. Der Zuschauer erlebt also kein ungeschminktes Abbild von Realität. Geschilderte Fatalitäten beschränken sich auf die einander entfremdeten Eltern von Maik, wobei Ähnliches bei Sia zu vermuten steht, die sich nicht von ungefähr auf eine Mülldeponie zurückgezogen hat, wo sie von den Jungs aufgegabelt und als „Dritte im Bunde“ mitgenommen wird. Dann gibt es noch einen gewissen Horst Fricke, welcher in offenbar leicht delirischem Zustand und mit Flinte bewaffnet irgendwo im Freien und mit Erinnerungen an KZ und Ostfront haust. Kritisches wird also nicht mit Paukenschlägen verabreicht. Sogar das finale Gerichtsurteil über die Ausreißer (Tschick kommt in ein Heim, Maik muss Sozialdienste leisten – Wiedersehen nicht ausgeschlossen) wirkt milde. Ohnehin befindet Maik: „Das war der schönste Sommer meines Lebens.“ Dieses Erleben kann ihm keiner nehmen. In Hagen baumelt er zuletzt gemeinsam mit Isa und Tschick in der Luft. Dieses Bild vermittelt ein schönes Freiheitsgefühl. Es entflammt sogar Maiks trinkfreudige Mutter, welche sich radikal von Zivilisationsgerümpel befreit und dieses in ihren Swimmingpool schmeißt. Im Roman taucht sie mit ihrem Sohn selber dort unter, hält die Luft an und belächelt die verdutzten Polizisten am Rande des Beckens.
Ludger Vollmer ist ein vielseitiger Komponist, wirft gerne einen Blick auf die Generation der Jüngeren. Als auch ausübender Musiker ist er mit Klassik ebenso vertraut wie mit Jazz und Rock. In das Punk-Ambiente von „Tschick“ musste er sich aber zugegebenermaßen erst ein wenig einfühlen. Seine Musik klingt fetzig, steigert sich gerne mal in einen Forterausch. Dennoch klingen immer wieder tonale Harmonien hinein, und der Coming-Out-Monolog Tschicks wirkt mit seiner breiten Cellokantilene sogar traditionell opernhaft. Wichtig für die Wirkung von Vollmers Musik ist, dass sie einen „mitzunehmen“ versteht, dass sie in keinem Moment avantgardistisch esoterisch wirkt, was freilich durch den Stoff notwendigerweise mit bedingt ist. Aber bei der Wahl theatralischer Stoffe hat sich der Komponist seit jeher als realistisch denkend und zeitbezogen erwiesen.
Die Hagener Aufführung kann eigentlich nur in höchsten Tönen gepriesen werden. Anzufangen wäre bei Krista Burgers Grafiken und Projektionen, welche die von Jan Bammes sinnfällig ausgestattete und ständig bewegte Bühne oft zur Filmkulisse werden lässt. Dies näher zu beschreiben hieße, sich unbotmäßig in Details zu verlieren. Dies gilt auch für die Inszenierung von Roman Hovenbitzer, ständiger Gast am Theater Hagen. Also auch ihm ein lediglich pauschales, aber ganz großes Kompliment. Der einsatzfreudige Chor (Wolfgang Müller-Salow) ist hervorzuheben Die Inhaber der vielen Kleinpartien müssen an dieser Stelle hingegen ungenannt bleiben. Doch sei wenigstens erwähnt, dass eine Solistenklasse des Kinder- und Jugendchores am Theater Hagen umfänglich im Einsatz ist. In größeren Solopartien profilieren sich Marilyn Bennett und Rainer Zaun (mit ziemlich rüdem Jargon) als Maiks Eltern sowie Richard Van Gemert (Horst Fricke) und Heikki Kilpeläinen (diverse Partien).
Für die Besetzung der beiden männlichen Protagonisten, im Roman Jungs von etwa 14 Jahren, hatte Vollmer eine pragmatische Entscheidung zu treffen. Hosenrollen kamen aus guten Gründen nicht infrage. Der Komponist entschied sich also ganz kontrovers für Baritonstimmen. Das macht, wie auch die Physiognomien von Andrew Finden (Maik) und Karl Huml (Tschick, a.G.) eine Identifizierung mit den dargestellten Figuren zunächst etwas problematisch. Natürliches vokales Agieren und lebendige Darstellung besiegen anfängliche Skepsis aber schon sehr bald. Kristina Larissa Funkhausers Isa ist ein rundum glaubhafter Charakter. Mutig und ohne Peinlichkeit wagt sie sogar eine oben-ohne-Szene.
Christoph Zimmermann 19.3.2017
Bilder (c) Theater Hagen