Vorstellung am 24. November 2018
Irina Lungu, eine großartige Lucia
Jedes Jahr wird das Festival de Tenerife von Oktober bis Dezember auf der größten Insel der Kanaren mit seinem Programmangebot umfang- und facettenreicher. In der Temporada 2018 werden wieder bedeutende Werke der Oper, des Tanzes und des Sprechtheaters geboten, insbesondere im Auditorio Ádán Martín am Hafen von Santa Cruz, der Hauptstadt der Insel, sowie im Teatro Guimerá in Santa Cruz und im Teatro Leal in der alten Stadt La Laguna. Das Opernprogramm umfasst diesmal drei Werke mit Betonung auf dem Belcanto, und zwar „L’italiana in Algeri“ von G. Rossini im Oktober, „Lucia di Lammermoor“ von G. Donizetti im November und „Il viaggio a Reims“ von G. Rossini im Dezember.
„Lucia di Lammermoor“ war eine Koproduktion der Ópera de Tenerife im Auditorio Ádán Martín, einem futuresken Bau des berühmten katalanischen Architekten Santiago Calatrava Valls, mit dem Teatro Colón in Buenos Aries und der Fundación Ópera de Oviedo in Spanien. Üblicherweise führt man vor allem Koproduktionen mit der Peninsula (der Halbinsel) auf, wie man hier den kontinentalen Teil Spaniens nennt. Er war also diesmal mit Oviedo auch wieder beteiligt, dazu aber eben auch das ehrwürdige Teatro Colón in Argentinien.
Wie gewohnt in Santa Cruz, und dabei denke ich an die letzten Aufführungen von „Don Carlo“, „Norma“ und „Werther“, die hier ebenfalls rezensiert wurden, war auch die „Lucia“, dreimal aufgeführt, eine gute Inszenierung, wenn auch mit einer etwas ernüchternden Inszenierung des Regisseurs Nicola Berloffa und seines Assistenten Raúl Vasquez in den entsprechenden Bühnenbildern von Justin Arienti. Dieser war auch für die stark auf die schottische Kleidungstradition zur Zeit der historischen Verankerung der Produktion verantwortlich. Berloffa verlegte nämlich die große Auseinandersetzung der Familien Ashton und de Ravenswood in das Ende der 1940er Jahre in Schottland, also in eine Nachkriegsepoche mit all ihren Nöten und Problemen. Man sah überall den wirtschaftlichen Verfall und dadurch auch in eine Zeit, in der die alten Grenzen zwischen Adel und Dienerschaft auseinanderzubrechen drohten bzw. tatsächlich ihrem Ende entgegen gingen.
Statt also in einem Garten um das von Lord Enrico Ashton von der Familie de Ravenswood übernommene Schloss begann der 1. Akt in dessen herunter gekommener Küche, in der die Dienerschaft mit den Vorbereitungen des Essens beschäftigt war. Obwohl sie erst 1953 zur Königin gekrönt würde, hing schon jetzt das Konterfei von Elisabeth II. an der Wand. Das war historisch gesehen nicht ganz einleuchtend in einer Inszenierung, die sich total dem Realismus verpflichtete und die Probleme der beiden Adelsfamilien wie jene der beiden unglücklich Liebenden Edgardo und Lucia mit einer ganz auf die menschlichen Probleme und Zerwürfnisse abstellenden Personenregie ebenso eindrucksvoll und nachvollziehbar vor Augen führte.
So sah man Lord Enrico Ashton auf einem schon verrostenden Feldbett in seinem Schlafzimmer, das zuvor wohl jenes der Mutter Lucias war. Enricos Bedürftigkeit und die für ihn daraus resultierende Notwendigkeit der Verheiratung seiner Schwester mit Lord Arturo Buklaw wurden somit nicht nur optisch verständlich, sondern auch durch einen intensiv und boshaft auftretenden Lord des klar artikulierenden und ausdrucksstarken Baritons Andrei Kymach. Er hinterließ auch im weiteren Verlauf der Oper neben Irina Lungu als Lucia den stärksten darstellerischen und auch stimmlichen Eindruck. Das gute Lichtdesign von Valerio Tiberio vermochte den einzelnen Szenen bisweilen subtile Intensität zu verleihen.
In dieser Welt einer sich auflösenden Ordnung und Verwirrtheit können sich Edgardo und Lucia nur in den trostlosen Gängen des Schlosses treffen, die normalerweise dem Dienstpersonal vorbehalten sind. Die lautlosen Ortswechsel in den Lichtpausen wurden durch die geschickt eingesetzte große Drehbühne des Auditorio bewerkstelligt.
Lediglich für die Hochzeitszeremonie wurde noch ein eleganter klassizistischer Salon mit edlen Holzpaneelen gefunden, in dem die Adeligen in eleganten Schottenröcken und aufwändigen Damenkleidern noch einmal alten Glanz zu entfachen schienen. Dennoch ging Arturos kurze Arie fast unerhört über die Bühne. David Astorga sang sie mit einem hellen Tenor bei etwas bemühten Höhen. Großartig war hier der Eintritt von Irina Lungu als Lucia, die in einer unglaublich authentischen Darstellung ihre emotionale Aufwühlung vor der dann praktisch erzwungenen Unterschrift unter den Heiratsvertrag – man führte ihr gar die Hand – eindrucksvoll zu Ausdruck brachte. Schon ihre erste Arie im Dialog mit der guten Mezzosopranistin Vittoria Vimercati als Alisa erntete starken Szenenapplaus des zahlreich erschienenen Publikums. Er wuchs zu einem voll berechtigten Beifallssturm nach ihrer berühmten Arie „Il dolce suono […] Spargi d’amaro pianto” im blutverschmierten weißen Kleid
im 2. Bild des 3. Akts an, in deren Verlauf die neugierig starrenden Ashtons und ihr Gäste sowie Bediensteten in einer Rückwärtsbewegung (durch die Drehbühne) die wesentlichen Stationen ihres Lebens sahen, unter anderem auch den toten Arturo im Bett Enricos. Lungu gestaltete diese Momente nicht nur mit äußerster Emphase, Leidenschaft und größter Traurigkeit. Sie sang die Lucia auch mit einem herrlich leuchtenden Sopran bei nicht nur guter Tiefe, sondern auch mit klangvollen Spitzentönen und einem Belcanto in des Begriffes bester Bedeutung. Ihre Koloraturen sowie die Harmonie mit der Flöte aus dem Graben begeisterten. Die Flötenspielerin kam am Schluss auch zu ihrem Einzelapplaus. Das große Tableau am Ende des 2. Akts wurde aufgrund der Publikumsbegeisterung sogar wiederholt! Lungu war stets hervorzuhören. Sie war der Star des Abends und bekam von den Tenerifeños, wie die Inselbewohner heißen, beim Schlussapplaus sofort standing ovations und Bravas.
Auch wenn der auf Teneriffa gebürtige Tenor Celso Abelo einen kräftigen, stabilen und intonationssicheren Tenor mit nahezu heldischem Aplomb aufweist, konnte er der Rolle des eigentlich feurigen Liebhabers Lucias nur bedingt gerecht werden. Vom Kostümbildner mit einem schlichten blauen Business-Anzug mit Weste – trotz aller verständlichen Bestrebungen um Realismus – doch etwas vernachlässigt, wirkte sein Auftreten meist zu behäbig, zu steif, ja zeitweise stereotyp. Es sprang nie wirklich der Funken über, der die Leidenschaft der unvereinbar Liebenden auch von seiner Seite zum Ausdruck gebracht hätte. Auch klang sein an sich guter Tenor bei völlig fehlender Italianità zu unflexibel im Ausdruck unterschiedlicher Stimmungen – da gingen Darstellung und gesangliche Leistung nicht immer Hand in Hand. Und es fehlte auch etwas an Resonanz.
Zu erwähnen sind noch Gabriele Sagona, der den Raimondo Bibedent mit hoher Autorität und einem klangvoll sonoren Bass gestaltete, sowie Klodjan Kacani als Normanno mit einem eher unauffälligen Tenor. Der von Carmen Cruz einstudierte Chor der Oper von Teneriffa sang mit hoher Intensität, Wortdeutlichkeit – es wurde auf Italienisch gesungen – und mit guter Transparenz in den einzelnen Gruppen.
Christopher Franklin dirigierte das Symphonische Orchester von Teneriffa mit einer sehr sängerfreunlichen und offenbar mit der Klangästhetik Donizettis bestens vertrauten Hand. Alle Vorspiele erklangen klar und prägnant, mit emotionaler Musikalität in die jeweilige Handlung einführend. Sehr schön waren Harfe und Klarinette zu Beginn des 2. Bildes zu vernehmen und dokumentierten einmal mehr die exzellente Akustik des dem Vulkan Teide nachempfundenen Saals. Das Vorspiel zum 2. Bild des 3. Akts gelang rhythmisch beschwingt, und Franklin verstand auch den Chor bestens zu führen. Alles in allem eine gute „Lucia“, der man einen etwas agileren und authentischeren Edgardo gewünscht hätte.
Fotos (c) Miguel Barreto / Applausbild (c) Der Opernfreund Billand
Klaus Billand 29.11.2018