Bayreuth: „Der fliegende Holländer“, Richard Wagner

© Enrico Nawrath

Frauenpower im „Tempel“ auf und unterhalb der Bühne des Festspielhauses! Bayreuth 2024 mit drei Dirigentinnen bietet endlich die nötige Portion Gegengift zur Testosteron-Überdosis der vergangenen Jahrhunderte. Zu der am 1. August 2024 von Oksana Lyniv meisterhaft dirigierten Aufführung von Wagners Der fliegende Holländer kamen noch zwei in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov besonders starke Frauenfiguren, jenseits von (wenn auch im Falle Sentas freiwilliger) Opfer- und Muttchenrolle.

Nach wie vor überzeugt der psychoanalytische Ansatz dieser Produktion, weil hier, in einer Neuerzählung der bekannten Geschichte – vergleichbar mit Dürrenmatts Drama „Der Besuch der alten Dame“ – das in seiner Kindheit traumatisierte Mitglied einer Kleinstadtgesellschaft in seine Heimatstadt zurückkehrt, um den Suizid seiner Mutter zu rächen. Die hatte seinerzeit ein Verhältnis mit Daland, der sie fallengelassen hatte; von der spießigen Kleinstadtgemeinschaft stigmatisiert und gemobbt, hatte sie nur den Weg in den Freitod gesehen – vor den Augen des kleinen Sohnes.

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Suizid ist ja ein wesentliches Thema im Holländer, wenngleich im Original bekanntlich das Selbstopfer zur Erlösung der Hauptfigur führt, hier aber der traumatisierende Freitod den Handlungsstrang erst initiiert. Wer einen Fall von Selbsttötung in seinem näheren Umfeld erleben mußte, dem können bei der unglaublich realistisch umgesetzten Szene schon einmal die Tränen in die Augen schießen. Und wer die Produktion bereits kennt, erwartet mit Bangen den katastrophalen Ausgang dieser Neudeutung, denn zwischen den Kleinstadtbürgern und der Mannschaft des Ruhelosen entflammt am Ende ein blutiger Konflikt mit zahlreichen Toten und einem veritablen Stadtbrand.

Kongenial zur Inszenierung sind an diesem 1. August fast durchweg die musikalischen Leistungen, vom mitreißend spielenden Festspielorchester unter einer gleichermaßen sensiblen und zupackenden Dirigentin, über die beinahe ausnahmslos hervorragenden solistischen Darbietungen bis hin zu einem Festspielchor, der Meerestürme, vermeintliche Kleinstadt-Idylle und ausbrechende Aggression desgleichen zu illustrieren vermag. Beim Steuermann-Lied geraten die Choristen und das Orchester mal etwas (und völlig verzeihlich) aus dem Takt, aber das paßt sogar zur ausgelassenen Stimmung, in der bereits die Katastrophe dräut.

© Enrico Nawrath

Muß man eigentlich noch etwas zu „König Georg I. von Bayreuth“ sagen? Wiederum gibt Georg Zeppenfeld einen Daland, der in seiner Spießigkeit und Unaufrichtigkeit das Unheil erst verursacht hat. Erneut besticht er durch seine kristallklare Diktion und die dynamische Gestaltung des Charakters, ebenso wie durch die lebhafte Gestik mit durchaus humoristischen Momenten. Völlig spaßfrei ist selbstverständlich der Holländer, dem Michael Volle eine mächtige, bedrohliche Stimme leiht. In den mezza voce-Passagen ist er etwas unklar; hier schwingt womöglich die ständig zurückgehaltene Rachgier mit hinein.

Der Sänger hatte sich vor Kurzem verletzt und spielt mit einer Krücke, was das Agieren auf der Bühne nicht eben leichter macht. Den Erik gibt passenderweise Eric Cutler und dieser junge Mann ist aufgrund der präsenten Darstellung dieses Tenors mit großer Spannweite in das Baritonale hinein mehr als nur der verschmähte Ex-Freund Sentas; seine Verzweiflung ob der verlorenen Liebe ist absolut glaubhaft. Cutler und Matthew Newlin als Steuermann machen die Nebenrollen zu so etwas wie kleineren Hauptrollen; Newlins Seemann gewinnt, neben der reifen gesanglichen Leistung, durch die komödiantische Darstellung des Angetrunkenen eine weitere spielerische Ebene. Seine Unbekümmertheit ist ein Gegenpol zur Dramatik des späteren Geschehens und der inneren Härte der männlichen Hauptpersonen.

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Nun aber zu den starken Frauen, allen voran Elisabeth Teige als Senta, die in dieser Deutung als lebensdurstiges Mädchen nur heraus will aus der sozialen Enge und Kontrolle. Der Holländer scheint ihr als Ausweg geeignet und mit unbeirrbarem Eigensinn und Selbstbewußtsein trotzt sie der Kleinbürgerwelt. Teiges Senta ist stimmlich höchst wandelbar; ihre Höhen strahlen glockenhell und dynamisch kann man sie nur als echte Wucht bezeichnen. Wenngleich sie noch an der Textverständlichkeit arbeiten kann, gehen ihre Temperamentausbrüche mit ihrem satten Timbre unmittelbar unter die Haut. Die Stärke von Mary äußert sich hier in ihrer – in jeder Hinsicht finalen – Initiative, als sie den Holländer am Ende erschießt, bevor er auch noch Senta ins Unglück reißt. Nadine Weissmann spielt die resolute Mutterfigur zwar überzeugend, aber ihrer girrend-kehligen Stimme fehlt das mütterlich-warme Element.

Nach der Erschießung des Holländers bricht Senta in hysterisches Lachen aus, das dann in lautes Schluchzen übergeht. Sie umarmt Mary, einsichtig, daß diese Beziehung nicht glücklich hätte werden können. Ob irgendwann noch einmal die Chance auf ein echtes Miteinander besteht? Das bleibt offen, aber die Realität ist erst einmal unerbittlich.

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Absolut positiv, ja entfesselt ist die Reaktion des Publikums, das alle Mitwirkenden des Abends immer wieder vor den Vorhang klatscht. Eine grandiose Produktion mit echten Glanzleistungen!

Andreas Ströbl, 2. August 2024


Der fliegende Holländer
Richard Wagner

Bayreuther Festspiele

1. August 2024

Musikalische Leitung: Oksana Lyniv
Inszenierung: Dmitri Tcherniakov
Festspielorchester und -chor Bayreuth