Premiere per Stream am 25. Juli 2021
Eine „romantische“ Oper nach Richard Wagner
Gestern Abend sind sie also nun gestartet, die Bayreuther Festspiele 2021, nachdem das Festival im Vorjahr wegen Covid 19 abgesagt werden musste. Man begann mit einer Neuinszenierung des „Fliegenden Holländer“, und was vor allem im Vorfeld kommentiert wurde, war die Tatsache, dass zum ersten Mal seit Gründung der Festspiele im Jahre 1876 eine Frau am Pult des Bayreuther Festspielorchesters stehen würde, als handelte es sich um eine andere Spezies, die nun einmal die musikalische Leitung in die ungewohnten Hände nehmen würde. Meines Erachtens wäre der Sache der langsam, aber sicher und durchaus verdient, als Operndirigentinnen an großen Häusern aufkommenden Damen besser geholfen gewesen, wenn dieser Umstand unaufgeregter kolportiert worden wäre. Schließlich hebt auch die Lufthansa nicht bei jedem Flug die Tatsache vergor, dass eine Frau am Steuer sitzt, für einige Fluggäste immer noch eine Überraschung. Oksana Lyniv, ehemalige GMD in Graz, um es gleich vorwegzusagen, machte ihr Debut im nicht ganz leicht zu beherrschenden „Mystischen Abgrund“ mit dem Orchester der Bayreuther Festspiele sehr gut, soweit man das auf der Basis eines streams sagen kann. In jedem Falle stimmten die Tempi, wurden dramatische Akzente passend und einnehmend gesetzt sowie die Sänger stets gut geführt. Ein sicher beachtlicher Einstand!
Aber es gab ja auch noch einen Regisseur, und der heißt Dmitri Tscherniakov, eine Weile mal für den neuen Bayreuther „Ring“ im Gespräch, der ja nun 2022 kommen soll und von Valentin Schwarz in der Rekordzeit von etwa neun Monaten (!) mit allen vier Teilen schon fertiggestellt wurde! Und was uns der gute Tscherniakov mit Unterstützung seiner Dramaturgin Tatiana Werestchagina gestern Abend im stream und im Festspielhaus servierte, hat relativ wenig, wenn überhaupt etwas mit Wagners „Fliegendem Holländer“ zu tun, erst recht, wenn man die sehr persönliche Genesis dieses Frühwerkes des Bayreuther Meisters und Heinrich Heines Aufzeichnungen aus den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski bedenkt. Daraus ergibt sich gewissermaßen zwangsläufig das Postulat, die im wahrsten Sinne des Wortes elementare Rolle der hier ganz wesentlichen Elemente, nämlich Wind, Wellen und Meer, die zudem klar hörbar aus Wagners Musik zu uns sprechen, auf irgendeine Weise dramaturgisch einzubinden und nach Möglichkeit auch optisch umzusetzen. Das ist zugegebenerweise nicht ganz leicht, wenn es überzeugend sein soll.
Bedeutende Regisseure haben sich dieser Aufgabe immer wieder mit Erfolg gestellt. Wenn man an die Bedeutung des ihm so wichtigen Mythos in Wagners Oeuvre glaubt, bzw. sie überhaupt zur Kenntnis nimmt und damit an den Komponisten glaubt, dann sollte man sich dieser Aufgabe stellen, erst recht in Bayreuth. Dass dies hier nicht geschehen würde, war schon an der Einblendung zu erkennen, dass der Holländer nach sieben Jahren nun nach Hause (eigentlich ja Holland!) kam, er also Einwohner des norwegischen Sandvikes ist – was die der ganzen Oper zugrunde liegende Idee des vom Teufel verfluchten und deshalb so unnahbaren und umherirrenden Ahasvers der Meere auf den Kopf stellt! Also stattdessen schon der nette Schwiegersohn von nebenan? Der verzwergende Mikrokosmos des neuen Bayreuther „Holländer“ war damit auch formell vorgezeichnet. Immerhin wiesen die Kostüme mit den Gummistiefeln von Elena Zaytseva darauf hin, dass sich das Ganze in Norwegen zuträgt. Besonders schön die Norweger-Pullover der Herren!
Natürlich ist es da viel leichter, das Stück in die Plakativität des heutigen Alltags zu verlegen, ja regelrecht in die Gegenwart zu zerren und es damit nahezu total gegen Wagners Text und Musik zu inszenieren. Aber beides scheint für Tscherniakov wohl keine Rolle bei seiner Interpretation der Figur des Holländers zu spielen, der alle sieben Jahre an Land geht und das schon seit längerer Zeit (300 Jahre?). Es geht gleich beim Vorspiel schon mal damit los, dass ein Mann mit einer Frau gleich nach der ersten Umarmung – natürlich bei Vollbekleidung – an einer Häuserwand kopuliert und diese sich nach Abweisung durch die Dorfgemeinschaft Minuten später im ersten Stock eines Hauses deswegen aufhängt. Sie hatte offenbar ein Kind, der arme Knabe kommt fassungslos hinzu. Mit etwas Phantasie könnte man das als einen der vorherigen Versuche des Holländers deuten, ein treues Mädel zu seiner Erlösung zu gewinnen. Seine großzügigen Worte im Finale der Oper lassen aber auf andere, durchaus rücksichtsvollere Vorgehensweisen schließen, auch wenn die Damen dabei immer ihr junges Leben ließen. Erst später erfuhr ich durch Festspielgäste, die wohl einen Blick ins Programmheft geworfen hatten, dass die Ärmste die Mutter des Holländers gewesen sein soll, der zunächst stürmische und dann abweisende Liebhaber Daland und der Knabe also der Holländer selbst. Darauf muss man in der Schnelligkeit des Geschehens erst mal kommen. Der Holländer ist bekanntlich überall zu Hause, aber eigentlich heimatlos und sicher nicht im provinziellen Sandvike aufgewachsen, dass zudem noch in Norwegen liegt…
Mit der Musik des Vorspiels hatte das indes ohnehin nichts zu tun. Wie gern würde man doch endlich mal wieder ein Vorspiel ohne so aufdringliche Bebilderung erleben, um seine ganze musikalische Größe und Besonderheit zu genießen. Nicht umsonst sind es Stücke, die auch konzertant aufgeführt werden. Die Augenbedeckung bei Langstreckenflügen der Lufthansa aus der business class ist eine Option…
Dann geht es aber gleich hinein in die auch nach der Döner-Bude der „Götterdämmerung“ von Frank Castorf kaum noch überraschende Kneipe in Sandvike, in der sich Daland mit den norwegischen Matrosen auf den immer beliebter werdenden Plastikstühlen, die man in vielen Arztpraxen sieht, bereits beim Bier vergnügt und der Holländer in weißen Tennisschuhen von Beginn an als stummer Gast mit am Tisch sitzt. Denn er war nach der Idee des Regisseurs nach vielen Jahren zurückgekehrt, um Rache für die Misshandlung seiner Mutter zu nehmen. Krachend bricht der wackelige Campingtisch des Steuermanns bei dessen ohne Lärmbelästigung durchaus gut klingenden Lieds zusammen. Der Holländer steckt sich eine Zigarette an, nachdem er den Wirt – der übrigens verblüffend Frank Castorf gleicht – gebeten hat, den fünf Männern am Tisch eine Runde Bier auf seine Kosten auszugeben, als Ersatz für das (nur noch musikalisch wahrnehmbare) Eintreffen des Holländerschiffs.
Die Männer beäugen ihn während des Monologs immer verwunderter, der Tisch des Steuermanns bricht erneut krachend zusammen. Gegen Ende des Monologs verlangt der Holländer die Rechnung und zahlt mit US$-Noten großzügig gleich im Anschluss. So geht es munter weiter, wobei man sich wundern muss, in welchem Ausmaß Daland und Holländer („…und meine Heimat find‘ ich nie…“) von Dingen singen, die nicht im Entferntesten zu sehen, zu vermuten oder zu ahnen sind. Der Text wird zur Farce, die Musik zur Begleitung ohne Bezug zum Geschehen. Das erinnert mich durchaus an die Idee von Frank Castorf, seinen „Ring“ „gegen die Musik zu inszenieren“ und so zu einem ungewohnten Effekt zu kommen, um dann zu sehen, wie das Publikum damit zurecht kommt. Dass dies nicht von Erfolg gekrönt war, abgesehen vom singulären Dirigat von Kirill Petrenko und den zum Teil wirklich genialen Bühnenbildern von Aleksander Denic, war nachhaltig zu erkennen.
Auch im 2. Akt darf nichts so sein, wie es sein sollte oder wenigstens könnte. Nachdem ein paar Häuser des biederen Sandviker Zentrums mit Kirche (bewegliches Einheitsbühnenbild ebenfalls Dmitri Tscherniakov) etwas verschoben worden sind, setzen sich die Mädchen auf stoffbespannten Campingstühlen mit Notenbüchern um Mary herum und singen unter ihrer Anleitung ihr berühmtes Lied. Nun kommt allerdings die starke Phase der Senta, die Tscherniakov in der Tat beeindruckend als revoltierendes Mädchen darstellt, das von der Idee des Holländers besessen ist und sich eigentlich auch immer wieder emanzipatorisch gibt, obwohl das wiederum mit den dramaturgisch vorgegebenen Unterwerfungsgesten gegenüber dem Holländer unvereinbar erscheint. Wir erleben ein kleinbürgerliches Abendessen des alternden Pärchens Daland und Mary mit dem Holländer und Senta in einer Art Wintergarten. Es wird Suppe gereicht bei Kerzenschein! Im Laufe des Essens wird allein Mary klar, dass das nicht gut ausgehen kann. Sie wird den Holländer am Ende mit der Flinte erschießen, nachdem der zuvor schon mit seiner Pistole die norwegischen Matrosen vertrieben hat. Und da offenbart sich dann Senta mit einem ekstatischen Gelächter. Es war wohl auch für sie von Anfang an eine Null-Nummer, aber das konnte man bei der Ballade und den intensiven Szenen mit Erik vorher noch nicht wissen…
Die Bayreuth-Debutantin Asmik Grigorian, in Salzburg eine großartige Salome und Chrysothemis, interpretierte die Senta mit enormer Emphase und überzeugender Intensität in ihrer Auseinandersetzung mit Erik und dem Holländer. Ihr kräftiger und zu beeindruckender Attacke fähiger Sopran vermag alle Facetten der Rolle auszuleuchten. Nur gegen Ende wurden verständlicherweise leichte Ermüdungserscheinungen hörbar. Der Bayreuth-erfahrene John Lundgren spielte einen souveränen Holländer mit kräftigem Heldenbariton, weshalb ihm die Rolle auch mehr liegt als der Wotan. Sein Monolog war – wenn man die konstruierten Störungen außer Acht lässt – einer der Höhepunkte des Abends. Georg Zeppenfeld war wie immer ein mit profundem Bass ausdrucksstark auftretender Daland. Eric Cutler sang einen kraftvollen Erik, der auf Potential im heldischen Fach hinweist. Marina Prudenskaya, eine der besten Erdas der letzten Jahre, war eine gebieterische Mary mit vollem Mezzo. Attilio Glaser sang den szenisch arg behinderten Steuermann anmutig. Der von Eberhard Friedrich geleitete Chor der Bayreuther Festspiele, dessen Sänger von außerhalb des Festspielhauses sangen, war wie immer ein Glanzpunkt der Aufführung.
Im Musikalischen gibt es also wie so oft in Bayreuth nichts auszusetzen. Was die Inszenierung angeht, so reiht sie sich scheinbar nahtlos in die Serie von Wagner-Produktionen ein, die seit kurzem an großen Häusern in einer ganz ähnlichen Ästhetik daherkommen und zu erheblichen Teilen weitgehend von mythischen oder wenigstens tiefergründigen und für das Wagnersche Oeuvre typischen Facetten abstrahieren. Ich meine damit den Wiener „Parsifal“ von Kirill Semjonowitsch Serebrennikow und die Neuinszenierung von „Tristan und Isolde“ beim Festival d’Aix en Provence Anfang Juli 2021 von Simon Stone. Gerade bei letzterer finden sich, ähnlich wie in diesem neuen „Holländer“, nahezu groteske Abweichungen von der Intention des Komponisten und zerren das Stück in eine Realität die – zumal im 3. Aufzug – kaum noch nachvollziehbar ist.
Wenn das der Weg der künftigen Wagner-Rezeption wird, möchte ich nicht dafür die Hand ins Feuer legen, dass damit langfristig nachhaltiger Publikumszuspruch zu erreichen ist, der bei aller erwünschten Freiheit der künstlerischen Interpretation großer Werke der Opernliteratur ja auch eine gewisse und nicht vernachlässigbare (auch wirtschaftliche) Größe im Überlebenskampf der Kunstform Oper ist. Das gilt nun besonders nach der ihrem Ende entgegengehenden Pandemie und den damit möglicherweise verbundenen knapper werdenden Subventionen. Mit solchen Inszenierungen entfernt man sich immer weiter vom Wagnerschen Gesamtkunstwerk, einer einstmals bahnbrechenden Konzeption einer neuen Form des Musikdramas des Komponisten. Man lässt seine Musikdramen und Opern dann immer mehr als gefälliges – und manchmal auch relativ preisgünstiges – Theater mit teilweise beliebiger musikalischer Begleitung erscheinen. Statt Musiktheater also Theater mit Musik! Es ist zu hoffen, dass Text und Musik irgendwann wieder die ihnen vom Schöpfer zugedachten und folglich zustehenden Rollen in der Wagner-Rezeption erhalten werden. Das dann auch zeitgemäß verständlich und überzeugend zu bringen, ist das Werk wirklich großer Regisseure, die das Handwerk kennen, für die Musik Verständnis aufbringen und nicht unbedingt immer gleich einen „großen“ Namen haben müssen. Götz Friedrich, Harry Kupfer und andere haben vorgemacht, wie das geht!
Fotos: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele
Klaus Billand/28.7.2021