Bayreuth: „Götterdämmerung“, Richard Wagner

Kinder sind das Kapital der Gesellschaft. Das ergab eine Umfrage der SOS-Kinderdorf-Stiftung vom 12. April 2011; knapp 90 Prozent der Deutschen standen und stehen hinter dieser Formulierung. Sicher ist damit gemeint, daß Kinder unsere Zukunft sind und wir alles tun müssen, um ihnen ein Leben mit ausreichender Bildung, gesunder Ernährung und allem anderen, was sie benötigen, zu versorgen, um den Fortbestand unserer Gesellschaft zu sichern. „Kinder als Humankapital und gesellschaftliche Ressource – Die Elementarpädagogik als Adressat gesellschaftspolitischer Forderungen“ lautet folgerichtig der Titel einer Fachpublikation.

© Enrico Nawrath

Man kann das auch anders verstehen, indem man unterstellt, Kinder würden als „Kapital“ im materiellen Sinne verstanden, was irgendwie lieblos klingt. Man denkt da an die Etymologie des Wortes „Proletarier“, denn die proletarii im Alten Rom wurden deshalb so genannt, weil sie außer ihren Nachkommen, den proles, nichts weiter besaßen. Kinder kommen hier in den Ruch des Dinglichen, man konnte sie damals ja auch verkaufen. Menschen besaßen Menschen In Wagners Ring geht es ja bekanntlich um Kapital und den Kampf darum, um das fragwürdige, nutzlose, bloße Besitzen und Machtmißbrauch – da hat Valentin Schwarz also tatsächlich mit seiner Interpretation inklusive Kindesmißbrauch ein zentrales Thema erfaßt und weitergesponnen. „Mein Erbe nun nehm‘ ich zu eigen“, singt Brünnhilde bekanntlich am Ende der Götterdämmerung und das Erbe sind hier die Kinder, kein Gold. Das ist von der Idee her auch plausibel, aber in der Umsetzung – und das ist sicher die größte Schwachstelle an Valentin Schwarz´ Ring – bedarf es zu vieler Erklärungen und Meta-Ebenen-Besteigungen, was zusammen mit der für die Produktion charakteristischen Inkongruenz von Libretto und Partitur einerseits und Bühnengeschehen andererseits zum Ausbleiben einer emotionalen Unmittelbarkeit führt. Oder einfach gesagt: Tränen der Ergriffenheit bleiben (zumindest beim Rezensenten) hier aus, weil man sich ständig überlegen muß, wie Symbole, Figuren und Interaktionen zu deuten sind.

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Brünnhildes und Siegfrieds Beschwörung der gemeinsamen Liebe vor dem Aufbruch des Helden zu den Gibichungen und der bei Schwarz veritable Ehekrach in der Wohnung der Kleinfamilie klaffen eben schmerzlich auseinander. Daß Brünnhilde sich am Ende mit Benzin übergießt, aber statt eines Weltenbrandes nur eine immer wieder mal eingesetzte, symbolisch unklare Designer-Pyramiden-Lampe etwas an der Oberkante brennt, ist als Bild für diese dramatische Szene zu schwach, um nur zwei Beispiele anzuführen. Was grundsätzlich in Ordnung, ganz im Sinne des Erfinders ist und auch hier funktioniert, ist das Transponieren der Götterfamilie in die reine Menschenwelt, denn der Ring ist ja, wie Bernhard Shaw wußte, „ein Drama der Gegenwart und nicht eines aus ferner und sagenhafter Vorzeit“. Die große gesellschaftskritische Parabel steht der Schiller´schen Sozialromantik diametral entgegen, die sich in seinem berühmten Vers „Da die Götter menschlicher noch waren, waren Menschen göttlicher“ offenbart. Bei Wagner hingegen sind alle Mitwirkenden, ob in Walhall oder auf der Erde Rücken bzw. darunter ohnehin allesamt menschlich-schwache Figuren und da bleibt auch von der Götter neuem Glanze ja am Ende nur ein Schutthaufen. Schwarz geht da konsequent weiter und die Gibichungen haben einen Robert Geiss-Verschnitt als Oberhaupt. Dieser Gunther ist Mensch gewordene Unseriosität – „wenn Schiet wat ward“, sagt man in Norddeutschland.

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Michael Kupfer-Radecky ist grandios in der Darstellung des Kasper-Königs mit seinem albernen Gehupfe und den Hüftschwüngen; er ist stimmlich stärker als die Figur selbst. Sein Halbbruder Hagen ist noch präsenter als er; der mächtige Baß von Mika Kares dröhnt durch den ganzen Saal. Olafur Sigurdarson als Alberich ist ebenfalls großartig und gibt seinem nie aufgegebene Herrschaftsanspruch hörbare Form. Wie bereits im Siegfried verleiht Klaus Florian Vogt dem jungen Helden überzeugende Gestalt und auch an diesem Abend tut eine etwas dunklere Tönung der Rolle gut. Man wünscht sich allerdings einen freieren Umgang mit dem Text; da könnte er mal mit Parlando und Ausrufen experimentieren, sonst verbleibt ein Buchstabieren des Librettos. Catherine Fosters Brünnhilde strahlt und glänzt wie schon zwei Tage zuvor, ihre Höhen sind in der Tat gipfelstürmerisch. Aber auch Konkurrentin Gutrune steht ihr nicht nach, Gabriela Scherer ist kein bescheidenes Mädchen, sondern eine echte, sehr sinnlich agierende Frau. Die Waltraute von Christa Mayer glänzt durch enorme Bühnenpräsenz, allerdings geraten ihre Mittellagen zuweilen leicht kehlig.

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Trutschige Tanten sind hier die Rheintöchter (Evelin Novak, Natalia Skrycka und Marie Henriette Reinhold); daß sie sich selbst nicht so ernstnehmen, macht sie ausgesprochen sympathisch. Vor allem in der Textverständlichkeit, aber auch im szenischen Spiel überzeugen die Nornen (Noa Beinart, Alexandra Ionis und Christina Nilsson), auch die großen Nebenrollen sind hier durchweg ausgezeichnet besetzt. Eine echte Bank ist der Festspielchor unter Eberhard Friedrich, die drohenden Mannen machen klar, daß auch der unseriöseste Machtmensch mit genügend Geld und Einfluß über Untergebene verfügen kann, die seine Stellung zementieren. Simone Young akzentuiert die Partitur mitunter sehr eigen; man hört aus dem Festspielorchester zuweilen Solo-Instrumente und Gruppen heraus, die man zuvor so nicht wahrgenommen hatte. Manches hätte etwas rascher dirigiert werden können, aber gerade das Finale gerät fulminant.

© Enrico Nawrath

Schändlich, peinlich und absolut unangemessen ist das in den brandenden Applaus für alle Mitwirkenden gemischte Buh-Gewitter beim Erscheinen von Valentin Schwarz, zumal im Beisein der Solisten und der Dirigentin. Man weiß jetzt seit drei Jahren, worauf man sich bei dieser Inszenierung einläßt, und wer dann noch hingeht, ist selber schuld. Also – Klappe halten und eben nicht klatschen, mehr ist einfach nur prollig und unreife Randale.

Ausgebuht gehören allein die Handy-Besitzer, die zu blöd zum Ausschalten sind – am allerschlimmsten ist der dreimalige (!) Klingelton in Generalpause und Piano bei Siegfrieds Tod. Man kann nur hoffen, daß die Umsitzenden die Person anschließend wie früher auf dem Schulhof verprügelt haben. Ein Abgeben der Mobiltelephone wie in der Schule wäre hier wirklich angemessen.

Das letzte Wort soll ein positives sein: „Bravi!“ für die musikalischen Leistungen dieses beschließenden Ring-Abends!

Andreas Ströbl, 3. August 2024


Götterdämmerung
Richard Wagner

Bayreuther Festspiele

Vorstellung am 2. August 2024

Inszenierung: Valentin Schwarz
Musikalische Leitung: Simone Young
Festspielorchester und -chor Bayreuth