Premiere: 25.7.2015.
Besuchte Vorstellung: 14.8.2018
Kurz nach Beendigung des ersten Aufzugs, der Beifall ist vorbei, die Zuschauer strömen den Türen zu: „Das ist ein Bühnenweihfestspiel und keine Operette.“ Der ausländische Herr mit weißen Smoking und blondiertem Haupthaar brüllt es einer Dame vernehmlich zu.
Wo er recht hat, hat er recht. Auch in Uwe Eric Laufenbergs Inszenierung ist Wagners „Weltabschiedswerk“ gewiss nicht mit der „Lustigen Witwe“ verwechselbar. Auch in der dritten Spielzeit verläuft der Abend bedeutungsschwer. Hat der Regisseur im Sinne der „Werkstatt Bayreuth“ seine Arbeit verändert? Ein wenig – doch bleibt das Wesentliche erhalten: Immer noch hat der kritische Besucher den Eindruck, dass sich viele mehr oder weniger gute Einfälle keinem wirklich überzeugenden Gesamtkonzept eingliedern lassen. Von der Kirche im Nordirak zur freiwilligen – und schwer symbolischen – Aufgabe aller Religionen führt ein zu weiter Weg. Symbolismus und Realismus stehen sich manchmal, wie in der Schwantötungsszene, im Weg. Über den radikalen Symbolismus der Gralsenthüllung samt Wundenöffnung und schrecklichem Blutritual, das mir zum ersten Mal in Sebastian Baumgartens Kasseler Inszenierung begegnete, kann man, wie auf Seite 14 des Programmhefts angedeutet, im Lichte der christlichen Blutmetaphysik durchaus streiten. Immerhin schaut der Darsteller des Parsifal nun einige Sekunden lang in Titurels Sarg; dann segnet er die Sammlung der religiösen Artefakte, indem er einen Trümmerstein im Sarg versenkt. Nein, das Kreuz hat es auch nicht gebracht, es war ein Kreuz mit ihm. Seltsam problematisch aber wird es, als auf dem Zwischenvorhang der zweiten Verwandlungsmusik die drei Gesichter von Winifred, von Richards Totenmaske und (vermutlich, denn es es ist nicht leicht zu identifizieren) von Wolfgang Wagner erscheinen und ins Nichts aufgesogen werden.
Wer hier nicht an Stefan Herheims vergleichslos eindrückliche und, im Sinne der chronologischen Erzählung seines „Parsifal“, logische Erscheinung der Totenmaske Richard Wagners denkt, hat die geniale Inszenierung damals offensichtlich nicht gesehen. NUN auf dieses Bild anzuspielen, wäre vielleicht (!) nur dann gekonnt, wenn die Inszenierung vergleichbar durchgearbeitet wäre. So aber ist es, pardon, instinktlos, naiv und dramaturgisch überflüssig. Zum Schluss aber etwas Positives: Laufenbergs Regie zerstört nicht – anders als beispielsweise Castorfs „Ring“-Inszenierung – das Wesentliche: den Rhythmus und die Stimmung der Musik. Dafür ist der gemeine Wagnerianer ja heute schon dankbar. Und wenn am Ende der (herrliche) Schlusschor „Höchsten (!) Heiles (!) Wunder (!)“ singt und man jedes Wort intuitiv versteht, weil die Produktion ein gutes Deutungsangebot macht, werden Wagners Worte auf hintergründige und mehrschichtige Weise ins inszenierte Bild gesetzt.
Doch sind es an diesem Abend die Sänger – ausnahmslos ALLE Sänger -, die den Abend letzten Endes tragen, denn die Regie verstellt nicht die Sicht auf sie. Thomas J. Mayer wirkt auch deshalb stark, weil er das Leiden des Amfortas exzessiv und stimmkontrolliert aussingt. Seine hochdramatischen „Erbarmen“-Rufe packen schlicht und einfach den Hörer im Innersten. Günther Groissböck ist eher ein strenger als ein gütiger Gurnemanz, dabei glasklar in seiner dunklen Diktion. Nach dem hervorragenden Georg Zeppenfeld ist Groissböck ein weiterer Gewinn für diesen Abend. Andreas Schager singt einen extrem heldenhaften Parsifal: mit fokussiertem Klang, nur manchmal – in seinem Ausbruch im 2. Akt – ein wenig zu laut für die akustischen Verhältnisse des Festspielhauses, aber man soll nicht beckmessern: Dieser Parsifal ist dort, wo die Regie nicht klar machen kann, wer dieser Parsifal in Wahrheit ist, ein ungeheurer vokaler und schauspielerischer Gewinn. Wieder sehr bewegend: die Kundry der Prima inter pares: Elena Pankratova.
Wie wortgenau diese Sängerin die lyrischen Linien und den heldenhaften, d.h. starken und doch nicht hysterischen Ausbruch des 2. Akts mit iherm zugleich weinroten und goldenen Sopran gestaltet, ist betörend – und spielen kann sie auch noch: eine Frau, die die drei Charaktere, die Wagner Akt für Akt entwarf, hervorragend spielt. Klingsor ist wieder Derek Welton: ein starker, seine Phrasen immer ausgesprochen schön artikulierender, exzessiver Klingsor, dem Deutlichkeit über alles geht, wenn er seine vokal gestalteten Kraftreserven in einem nicht nachtschwarzen, aber deutlichen Bass zum Besten gibt. Der Titurel des Tobias Kehrer ist, als verknöcherter Greis, szenisch und vokal markant so präsent wie alle Sänger, auch die beiden Gralsritter Tansel Akzeybek und Timo Riihonen und die vier „kleinen“ Knappen namens Alexandra Steiner, Mareike Morr, Paul Kaufman und Stefan Heibach, womit auch und vor allem der phänomenale Festspielchor genannt werden muss. Ob sich die Männer- und die Frauenstimmen in der ersten Gralsszene wirklich mischten und ob der Höhenchor (mit der Altstimme der Wiebke Lehmkuhl) zu leise oder gut hörbar war: dies wurde von den Inhabern verschiedenster Plätze kontrovers diskutiert. Bleiben die auch optisch außerordentlich hübschen, von Jessica Karge eingekleideten und quasi ausgezogenen Zaubermädchen Ji Yoon, Katharina Persicke, Mareike Morr, Alexandra Steiner, Bele Kumberger und Sophie Rennert. Mag sein, dass sie an diesem Abend stimmlich nicht 100prozentig harmonierten – aber ihr Vokal-Ensemble ist doch, alles in allem, sehr entzückend.
Über Semyon Bychkovs Orchesterleitung hat man in den Premierenrezensionen besonders intensiv geschrieben. „Sein“ Parsifal ist zunächst mehr dramatisch als pathetisch; schon das Vorspiel wird analytisch gegliedert, die Themen bewusst voneinander abgegrenzt, aber ganz so eindeutig ist sein vitales, dabei dynamisch vergleichsweise diskretes Dirigat nicht. Mit einer Länge von 4 Stunden und 15 Minuten gehört sein „Parsifal“ zu den längeren der jüngeren Festspielgeschichte. Im dritten Akt bewegt er sich beispielsweise sehr langsam durch die Karfreitagsaue. Von wegen „dramatisch“: Haenchen brauchte bei der Premiere des Jahres 2015 eine runde Viertelstunde weniger, und auch sie machte nicht den Eindruck des Überhetzten. Klingen aber tut das (fast) alles deliziös: von den subtilen Holzbläsern über die warmen Streicherklänge zur Mystik des Finales. Nur die Glücken dröhnen heuer etwas blechern in den Saal – doch wenn sich das Auge des unverwechselbaren Bayreuther Vorhangs über den Schlusstakten des ersten Aktes, ja: seltsam bewegend schließt, hat man dieses (leider wichtige) Detail bereits vergessen. Macht nichts: Im nächsten Jahr kann man an den Glocken, an denen Bayreuth seit 1882 herumdoktort, weiter experimentieren – und sich vielleicht daran erinnern, wie volltönend und authentisch die Glocken bei Wieland Wagner und Stefan Herheim klangen.
Und der Schluss des Bühnenweihfestspiels, das keine Wiener Operette ist, wirkt immer noch ungeheuer stark. 20 Sekunden Stille nach den Schlussakkord – so etwas muss man erst einmal hinkriegen.
Frank Piontek, 15.8.2018
Fotos: © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath