Premiere: 29.7. 2021. Besuchte „Vorstellung“: 17.22, Counter 6
Wotans Raben fliegen schon unheilankündigend durch den Saal. Ich befinde mich im Festspielhaus.
Donnerstagnachmittag, fremde Mächte haben mich ins Haus gelockt, es sieht nicht so aus, als würde hier gleich der zweite Akt des Siegfried stattfinden. Zuerst stand ich vor der berühmten Tafel mit den Namen der Mitwirkende der ersten Bayreuther Festspiele, dann sah ich mich unversehens ins rechte Foyer versetzt, und sogleich war ich im Zuschauersaal – der Blick auf die Bühne verhieß nichts Gutes. Dort glimmt es unheimlich, wie aus einer todverheissenden Höhle heraus, als mir in Reihe 5 ein Mann entgegentritt, der mir die Ankunft Fafners verhieß. Ich kann gar nicht so schnell Angst haben wie ich IHN erblicke: das Monster fliegt kampfeswütig durch den Raum, in dem ich sonst mit vielen anderen Zuschauern zu sitzen pflege. Es bleibt mir nichts Anderes übrig, als zum Schwert zu greifen, das für mich bereit liegt. Dann beginnt – ich kenne ja die Oper – schon schnell der Kampf. Es hilft nichts: ich muss Siegfried sein und den grausam grimmigen Kerl ermorden. Die Musik dröhnt in mein Ohr, der riesige Drache nähert sich, speit Feuer, es raucht und brüllt aus ihm heraus, doch als der Befehl erscheint Erschlage den Drachen, stoße ich beherzt zu. Das Untier wird in den Raum geschleudert, das Schwert im Herzen, ich sehe, wie oben die Säulen brennen, der monströse Drache stürzt nieder, direkt zu meinen Füßen, ich könnte den gigantischen Schädel berühren, ich triumphiere: „Da lieg, neidischer Kerl…“. Einen Augenblick später stehe ich in einer der hinteren Reihen des Zuschauersaals und sehe den gewaltigen Körper, wie er sich sterbend über den Orchestergraben wälzt – und schon bin ich erlöst. War es mein Herz, das ich im Eingang zum Festspielhaus deutlich heftig vor mir schlagen sah? War es das von Fafner, den ich gerade gekillt habe? Egal – einige Minuten lang war ich das Kind, das das Fürchten nicht gelernt hat (denn ich kenne ja die Oper).
Sei Siegfried, so heißt die nicht einmal fünf Minuten lange Arbeit, die im Rahmen dieser etwas anderen Tetralogie 20.21 für einen ganzen Opernabend einsteht. Die Idee, die vielleicht nicht allein bei jugendlichen Zuschauern beliebteste Szene des Siegfried in ein Virtual Reality-Spiel zu verwandeln, war schon im Hinblick auf einen bedeutenden Wagner-Deuter gut. Thomas Mann war nicht der erste, der die Ähnlichkeit des germanischen Helden mit dem „Pritschenschwinger“ Kasperl und die Nähe Fafners zum Krokodil bemerkte. Wagner selbst liebte das Figurentheater, an dem die kleinen Zuschauer durch Zurufe und Mitfiebern einen besonderen Anteil nehmen – Sei Siegfried realisiert mit den ausgefuchstesten Mitteln der modernen Digitaltechnik eine Simulation, in der sich der Besucher des Festspielhauses wie ein Kind fühlen kann, das den Zuschauersaal des Festspielhauses als unheimlichen „Erlebnisraum“ durchkämpft. Man könnte es auch auf einen einzigen populären Begriff bringen: „Geil“ – denn die Professionalität, mit der der Wagnerianer hier den äußerlich dramatischen Höhepunkt der geliebten Oper erlebt, ist nichts als das. Die Idee, den Kampf im Saal stattfinden zu lassen, schon deshalb von schlagender Originalität, weil damit Wagners Ursprungsidee, die Festspiele dem sog. Volk zugänglich zu machen, für einige wenige, aber packende Minuten (virtuelle) Wirklichkeit wird – vorausgesetzt, man hat das Glück, eine Eintrittskarte für eine der drei Walküre-Malaktionen zu besitzen, in deren Pausen und eine Stunde danach den angemeldeten Opernbesuchern die Brillen übergestülpt werden. Die realen Schwerter, die zwischen den sechs „Counters“ zahlreich auf dem Boden liegen, sind dagegen nicht mehr als nostalgische Theaterrequisiten einer vergangenen Epoche. Wozu braucht man schon eine Eisenwaffe, wenn man einen Helm des 21. Jahrhunderts auf dem Kopf trägt?
Wir verdanken diesen kurzweiligen und aufregenden Beitrag zum Ring 20.21-Projekt des Diskurs Bayreuth dem auf vielen Gebieten ungewöhnlich vielseitigen Theaterregisseur Jay Scheib, der sich 2017 in der Wagner-Welt durch die Wuppertaler Produktion Surrogate Cities / Götterdämmerung einen Namen machte, als er Heiner Goebbels Orchesterstücke mit dem Schlussakt der Tetralogie koppelte. Mythos und Moderne kamen schon damals zwanglos zueinander, die Frage nach der Schuld des Menschen und der Rolle der Städte wurde damals aufgeworfen; nun werden Mythos und Moderne auf spielerische, trotz des schweren lauten Kampfs viel leichtere Weise nach Bayreuth gebracht. Niemand muss sich fragen, inwiefern er „Siegfried“ im Herzen ist (auch wenn es zunächst höchst vernehmlich schlägt). Er muss nur einen Kampf bestehen, von dem er sicher sein kann, dass er ihn nach drei Minuten überlebt hat. Technisch möglich machten diese im klassischen Sinne reizende Erfahrung Jay Scheibs Leute vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), an dem er Professor ist, „insbesondere des NCSOFT/MIT.nano Immersion Lab Gaming Program“, als Koproduktion mit NightLightLabs (Los Angeles): dem technischen Direktor Jesse Garrison, der Chefentwicklerin Kathleen Fox und dem Klangdesigner Davy Sumner. Damit nicht genug: das 3-D-Modell des Festspielhauses lieferte Ryan Metcalfe mit seinem Team von Preevue (London), nachdem LoooM (Berlin) das Haus gescannt hatte. Sie alle schufen, heißt es im Programmheft, eine Analogie zu Wagners Traum vom „unsichtbaren Theater“, aber was sie schufen, ist das genaue Gegenteil von Wagners Vision. Das Theater ist, weil es so scheint, durch und durch echt, sichtbar, für den Siegfried in einem selbst auf überreale Weise spielbar. „Das Ziel ist ein noch direkteres Eintauchen in die Fiktion, in die Geschichte und die Erfahrung der Oper“ – der Plan ging auf. Nur eines fehlte an diesem Nachmittag: die Kinder und Jugendlichen, die – vielleicht – den Weg zu Wagner durch derartig elaborierte und lustvolle Kurzeinstiege in Wagners fantastische Welten finden könnten.
Frank Piontek, 30.7. 2021
Fotos: ©Bayreuther Festspiele / Jay Scheib