Über das Buhen, Keifen und Nicht-an-sich-halten-können – oder: Wacken gegen Walhall. Eine Bayreuth-Nachlese
Wacken Open Air – da herrscht ein rauher Ton, entsprechend dem martialischen Auftreten vieler Bands mit Anleihen aus der altnordischen Mythologie. Wer auf der Bühne versagt, wird gnadenlos ausgebuht und in den einschlägigen Fachmagazinen Metal Hammer, Rock Hard oder Stormbringer verdienterweise an den Pranger gestellt. Schlimm, aber zu erwarten, oder?
Nur: Kein Wort davon ist wahr! So etwas erlebt man nicht in Wacken, sondern in Bayreuth. „Hart, aber herzlich“ – so lassen sich die Liebhaber von Hard Rock und Heavy Metal-Musik treffend beschreiben und Recherchen im schwermetallischen Milieu ergaben folgendes Bild: Überzeugt eine Gruppe mal nicht wie gewohnt, dann geht man eben einfach weg von der Bühne, kauft sich ein T-Shirt mit Gott Donner/Thor oder einem grimmigen Totenkopf, ißt eine Bratwurst und vor allem: Man enthält sich einfach des Applauses. Als dem selbsternannten Bürgerschreck Marilyn Manson vor kurzem mal der Beifall zu mau war und er sich darüber beschwerte, gab es tatsächlich Gegenwind. Buh-Rufe allerdings sind in der Szene verpönt.
Die Schnittpunkte der so unterschiedlichen Musikfeste bestehen witzigerweise einerseits in Teilen des Personals, wie den Göttern Wotan oder dem bereits genannten Donner, dessen Hammer Mjölnir viele Hälse der Wacken-Pilger schmückt. Das Asenblut, wie eine der Bands heißt, fließt ja auch durch die Adern der meisten Götter im „Ring“. Andererseits verbindet beide Veranstaltungen der echte Enthusiasmus derer, die wegen der Musik zum jeweiligen Sehnsuchtsort fahren und nicht, um sich selbst darzustellen.
Als im Frühjahr 2020 Corona-bedingt die Sitzplätze in den Cafés auch draußen karg geworden waren, ergab sich in Lübeck die Szene, daß eine Gruppe von (durch entsprechende T-Shirts erkennbaren) Wackenianern und der Rezensent mit ein paar Freunden vor dem letzten verfügbaren Tisch standen. Jeder wollte dem anderen den Vortritt lassen und es entfuhr dem Wagnerianer: „Ja, so sind sie, die Wackenianer – hart, aber herzlich!“ Den Tränen nahe, seufzte der massige, bärtige Metal-Mann: „Und diesmal fällt es aus!“ – „Bayreuth auch!“, so die Replik und wenn die Pandemie-Bestimmungen dem nicht gewehrt hätten, wäre man sich schluchzend in die Arme gefallen.
Es wurde in den Besprechungen ja schon mit berechtigtem Ärger über das Verhalten des Bayreuther Publikums berichtet. Handy-Gebimmel, zumal in Generalpausen, das ständige Glotzen auf die Geräte, Filmen und Photographieren während der Vorstellungen und nervige Störungen durch blinkende Protz-Uhren störten für die Umsitzenden bzw. alle im Saal den Kunstgenuß; das Geklingele war sogar auf der Bühne und im Orchestergraben hörbar, wie Mitwirkende bestätigten. Daß man sich da als Verursacher nicht schamhaft entschuldigt, sondern mit Kraftausdrücken auch noch diejenigen beleidigt, die angemessen auf die Störungen hinweisen, gehört mittlerweile zum üblichen schlechten und auch in anderen Häusern wahrgenommenen Ton.
Die Buherei allerdings hat sich zu so etwas wie einer Art von Sport einer Gruppe von Bayreuth-Besuchern entwickelt, die offenbar die selbstgefällige Art der Miesmacher von Mailand oder des Pariser Jockey-Clubs imitieren, um sich wichtig zu tun. Zwar wurde auch darüber schon berichtet, aber man kann das offenbar – leider – nicht oft genug wiederholen: Wer beim Schlußapplaus der Götterdämmerung beim Erscheinen der gesamten Riege aus Dirigentin, Solisten und eben auch das Regieteam um Valentin Schwarz die Geräusche einer aufgeschreckten Rinderherde anstimmt, der buht eben auch alle Mitwirkenden aus. Alberich Ólafur Sigurdarson klopfte Schwarz beim gemeinsamen Hinausgehen für alle sichtbar und bewußt solidarisch auf die Schultern und teilte damit allen mit: „du bist einer von uns!“ Man kann vom Schwarz-Ring halten, was man will, aber – auch das wurde schon ausgesprochen – wer nach drei Jahren Laufzeit immer noch erstaunt tut, was einem denn da geboten wird und sich lautstark abreagiert, der benimmt sich einfach nur kindisch und peinlich.
Geradezu erstaunlich ist, daß der zuerst geprügelte Tannhäuser von Tobias Kratzer mittlerweile zum umjubelten Publikumsliebling geworden ist. Nach der Aufführung am 4. August brandete der Beifall ohne auch nur einen Buh-Ruf auf und hielt sehr lange an. Das war 2019 noch völlig anders, denn, wie sich Dragqueen Le Gateau Chocolat erinnert, bekam das Regieteam „eine Kakophonie an Buhs“ zu hören, einige galten dem schillernden Begleiter der Venus selbst, für ihn völlig unverständlich: „Es ist nicht ungewöhnlich, daß das Regie-Team Buhs abbekommt. Wenn es aber mich als Darsteller trifft, ist das vielsagend. Denn ich singe in der Show ja gar nicht. Ich singe in der Pause am Teich, was in der 107-jährigen Geschichte nicht passiert ist – allein das ist auch schon bemerkenswert. Aber in der Show singe ich nicht. Ich kann also gar nicht dem Dirigenten nicht folgen oder die Töne nicht treffen. Ich repräsentiere lediglich eine Alternative, die ihnen nicht so geläufig ist. Meine Frage an sie ist also: Was buht Ihr da konkret aus? […] Ich habe nur gezeigt, daß es Menschen wie mich gibt. Menschen wie mich, die Eure Ideen von Sexualität und Geschlecht infrage stellen. Oder schwarze Menschen. Ich bin viele Dinge gleichzeitig. Und wenn man dann anfängt, ergründen zu wollen, warum sie buhen – dann ist es nicht schön“. Soweit Le Gateau Chocolat und damit die Frage, was hier eigentlich kaputtgeblökt werden soll. Wiederum fliegt der unfair knapp übers Netz geschmetterte Ball zurück, denn wer andere runtermacht, muß sich die Frage gefallen lassen, was in der eigenen Kinderstube falsch gelaufen ist.
Offenbar halten die Blöker ihr Verhalten für eine Art von Tradition, denn das Gebuhe hat ja allein in Bayreuth schon Produktionen begleitet, die echte Operngeschichte geschrieben haben: Wieland Wagner (Meistersinger 1956 und Tristan 1962), Götz Friedrich (Tannhäuser 1972), Patrice Chéreau (Ring 1976), Heiner Müller (Tristan 1993) oder Frank Castorf (Ring 2013) – all das sind große Regisseure, die Buh-Gewitter über sich haben ergehen lassen, aber zumindest einige Produktionen der aufgezählten gelten in der Retrospektive als Meisterwerke der Regiekunst.
Umsonst gebuht also bzw. falsch eingeschätzt. Was bleibt als Abschlußfrage? Müssen die zwar schick gekleideten, aber rüpelhaften Bayreuth-Buher sich von zauselbärtigen, schlammverschmierten Schwermetallern erzählen lassen, wie man sich bei einem Konzert benimmt?
Eine abschließende Betrachtung sei an die Kolleginnen und Kollegen gerichtet, mit denen sich in den Pausen teils konstruktive Gespräche ergaben, die aber auch in mitunter apodiktischer Arroganz den Solisten Provinzialität (O-Ton 1: „Stadttheater-Niveau!“), Dirigentinnen und Dirigenten Versagen (O-Ton 2: „Man erkennt ja gar keine Leitmotive. Ich bin offenbar in der falschen Oper“) sowie dem Orchester Stümperhaftigkeit (O-Ton 3: „Wissen die überhaupt, wo die sind?“), attestierten. Diese nicht ganz unbekannten Künstler geben auf dem Hügel alles, wochenlang und an den Abenden, wie wir alle wissen, teils stundenlang am Stück!
Lassen wir die alten Quellen sprechen. Zu Zeiten, als Wotans Wort den Menschen noch wert war und Donners dröhnender Hammer den Dummen den Schädel zerschlug, rieten die Runen dies: „Der Armselige, Übelgesinnte hohnlacht über alles und weiß doch selbst nicht, was er wissen sollte – daß er nicht fehlerfrei ist“ (Havamal – Des Hohen Lied 21, Lieder-Edda).
Andreas Ströbl, 20. August 2024