Buchkritik: „Carl Millöckers Leben und Werk im Spiegel der zeitgenössischen Presse“, Martin Trageser

1998 veröffentlichte der Musikkenner und -liebhaber Eckhard Henscheid unter der Überschrift Millöcker – Mahler – Krakau einige Anmerkungen zu einem jüngst erschienen Buch über Gustav Mahler. Er begann seine Glosse mit folgender Beobachtung: „In seinem auch sonst recht ahnungslosen und frappant schlecht im Stile der internationalen spätkarlkrausischen Journalpest heruntergeschriebenen Buch `The Real Mahler´ (München, 1997) notiert der englische Bigraphensimulant Jonathan C. Carr, Gustav Mahler habe in seiner Hamburger Zeit auch manch `seichtes Stück´ dirigiert, wie etwa den Carl Millöckerschen Bettelstudenten“. Das aber, so Henscheid, stimmt natürlich nicht; „denn erstens verwechselt den der Carr gewiss mit dem Vetter aus Dingsda; zweitens ist auch der, gemessen an Carrs Prosa, keineswegs so ganz seicht; drittens ragt der Bettelstudent im Gegenteil als eines der zehn vollkommensten Stücke des Weltmusiktheaters überhaupt heraus“ – ja, so Henscheid schließlich, „unter den komischen Werken bzw. Operetten ist er vielleicht sogar knapp vor der Fledermaus das superieure.“

Carl Millöcker war neben Franz von Suppé und Johann Strauss der Wiener Operettenkomponist. Trotzdem muss er heute als ein weithin unbekannter Meister bezeichnet werden, woran selbst Der Bettelstudent nichts zu ändern vermag. Selbst Gasparone ist heute eher ein Gerücht als eine Bühnenrealität. Es ist schade, denn mit seinen Hauptwerken vermag der Mann aus der Gumpendorfer Straße immer noch zu bezaubern. Um ihn im 125. Jahr seines irdischen Dahinscheidens wieder ins Gedächtnis der Operettenfreunde zurückzuholen, hat Martin Trageser nun bei Königshausen & Neumann eine relativ schmale Biographie veröffentlicht, um „Leben und Werk im Spiegel der zeitgenössischen Presse“ zu beleuchten. Der Titel mutet seltsam an, denn Presseartikel, so ausgiebig sie auch zumal nach der Nachzeichnung des Erfolgs des Bettelstudenten zitiert werden, bilden nur einen Teil der originalen Quellen; Millöckers Tagebuch – die 1969 veröffentlichte Hauptquelle für sein Leben und Schaffen seines letzten Lebensdrittels – ist ebenso prominent vertreten, die biographische Erzählung keine Nebensache. Trageser startet seine Parforcetour durch Leben und Werk mit einem Rückblick auf Millöckers Tod und Begräbnis, das für die Zeitgenossen nicht allein den Abschluss des 19. Jahrhunderts, auch den Tod der später „golden“ genannten Operette markierte. Der Biograph lässt mit den 1871 uraufgeführten Drei Schuhen, einem „Lebensbild mit Gesang“, die Reihe der bedeutenden Millöcker-Stücke beginnen, Das verwunschene Schloss, das am 30. März 1878 im Theater an der Wien herauskam, ist dessen achte, zugleich die erste Operette, die im maßgeblichen Nachschlagewerk – Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters – einen eigenen Werkartikel erhielt. Von da an ging’s zunächst bergauf, dann wieder bergab. Nach Der arme Jonathan (1890) monierte die Kritik, dass das alles ganz schön, aber doch nicht sehr originell klinge.

Millöcker sollte keinen dauernden Erfolg mehr produzieren. Der Feldprediger und Der Vizeadmiral verschwanden ebenso von den Bühnen wie Der Probekuss und Die sieben Schwaben, und dies wohl nicht nur aus dramaturgischen Gründen. Trageser erzählt, wie es sich für eine gute Wiener Operettengeschichte gehört, auch ein wenig die Geschichte der Librettisten, die, wie Millöcker, sehr viel Massenware und einige Meisterwerke produzierten. Im Anhang listet der Autor schließlich 73 Possen, Lebensbilder, Volksstücke etc. (drei mehr, als noch vor 20 Jahren „bekannt“) und 20 Operetten und Singspiele auf, nebenbei erfahren wir, dass die Operette mit dem ergötzlichen Namen Der Sackpfeifer (geschrieben in Zusammenarbeit mit Ludwig Anzengruber) erst 2015 vom Ensemble Oper@Tee in Strasshof seine Premiere erlebte und heuer Der Bettelstudent in Ischl und Der arme Jonathan in Flensburg aufgeführt werden. Man sollte sich die beiden Stücke mal wieder live anhören – das Auftrittswalzerlied des armen Jonathan und die vielen Köstlichkeiten des Bettelstudenten sind schon eine Reise wert. Das Buch könnte, so bescheiden und bildlich bisweilen prekär es auch daherkommt, vielleicht doch „einen Beitrag zu seiner [Millöckers] Wiederentdeckung leisten“. Es ist dem Komponisten nur zu wünschen.

Frank Piontek, 28. Mai 2024


Martin Trageser:
Carl Millöckers Leben und Werk im Spiegel der zeitgenössischen Presse

Königshausen & Neumann, 2024
153 Seiten, 23 Abbildungen. 18,90 Euro