Zum Fünfundachtzigsten
Stutzen lässt schon einmal der Titel Lebensatem Musik des zum achtzigsten Geburtstag des Dirigenten und Pianisten Christoph Eschenbach heraus gegebenen Buchs, denn wie könnte es Leben ohne Atem oder Atem ohne Leben geben? Sehr schnell wird jedoch bereits im ersten Kapitel klar, dass Leben wie Atem des Komponisten abhängig waren vom Erleben der Musik, die den durch Krieg und Vertreibung aus Breslau durch den Tod der Mutter kurz nach seiner Geburt und den des Vaters in einem „Bewährungsbataillons“ kurz vor Kriegsende, schließlich noch als Einziger in einer Typhusbaracke Überlebenden hatten verstummen lassen. Erst das Erleben von Musik im Haus der Adoptivmutter, einer Cousine der leiblichen, gab dem Jungen Kraft und Mut, seine Begabung zu entwickeln und bereits mit zehn Jahren seinen ersten Preis, den für Klavierspiel von Steinway, zu erringen.

Im ersten Teil noch berichtend, erzählend, urteilend, wird Margarete Zander zunehmend zur Chronistin und Moderatorin, denn ein großer Teil des 250 Seiten umfassenden Buchs besteht aus manchmal mehrere Seiten umfassenden Selbstzeugnissen des Künstlers oder seiner künstlerischen Weggefährten, was dem Buch natürlich einen kaum zu übertreffenden Grad von Authentizität und eine große Lebendigkeit verleiht, die Autorin sieht sich in erster Linie als Sachwalterin, hält sich zwar nicht mit durchweg wahrnehmbarer Sympathie für ihren „Gegenstand“ zurück, wirkt aber mehr wie ein Spiegel, der das Bild ihres Erzählgegenstands zurückwirft, als dass ihr je Autoren-Eitelkeit vorgeworfen werden könnte. Das heißt nicht, dass man ihrem Text die Vertrautheit mit rhetorischen Kunstgriffen nicht anmerke, besonders wenn sie mit Erfolg Stimmungen vermitteln will. Ebenso wichtig wie die Äußerungen Eschenbachs sind die seiner Weggefährten über ihn, seien es Sänger wie Renée Fleming oder Instrumentalsolisten wie Lang Lang, Mitglieder der Orchester, die er als Gast oder Chefdirigent leitete, oder Größen aus einer anderen Gattung wie John Neumeier. In diesem Sinn wechseln straff chronologisch berichtende Teile mit Inseln von thematisch Gegliedertem einander ab.
Besonders interessant ist das Kapitel über das „Wunder von Houston“, die Bildung eines für hinterwäldlerisch vermuteten Orchesters zu einem Klangkörper von Weltniveau, ebenfalls das über das Schleswig-Holsteinische Sommerfestival und höchst berührend das über die schließliche Heimkehr nach Breslau, heute Wroclaw, nicht nur als wehmütiges Wiedersehen, sondern als Beginn einer schöpferischen Zusammenarbeit zwischen Polen und ihrem deutschen Dirigenten. Da wird es wohl in Zukunft noch mehr „Kulturzüge“ zwischen Berlin, wo er nun als ehemaliger Chefdirigent des Konzerthaus Orchesters schmerzlich vermisst wird, und Breslau geben.
Eschenbachs Karriere war zunächst die eines Pianisten (aber er studierte auch Violine), danach die eines Dirigenten, wobei stets auch andere Gattungen als die der Musik ihren Einfluss auf ihn ausübten, so die Dichtung, insbesondere Rilkes Duineser Elegien. Und immer wieder sind es Persönlichkeiten des kulturellen, vorwiegend des musikalischen Lebens, die den Weg des Viel- und Hochbegabten kreuzen: Karajan, Henze, Frantz, Bernstein, Szell, und ganz nebenbei fällt dem Berliner Leser beim Studieren des Kritiken auf, wie viele Zeitungen es einmal in Berlin mit den längst verschwundenen Der Abend, Telegraf, Spandauer Volksblatt gab.
Sehr knapp sind die Ausführungen über den Operndirigenten Eschenbach, dabei hat er auch in Bayreuth (Parsifal) gearbeitet, gern mit Sängern wie Fischer-Dieskau, Goerne, Edda Moser, Schreier und der jüngst verstorbenen Edith Mathis. Da kann man nur vermuten, dass ihm wie anderen, so Jankowski, der Regie-Wahnsinn abstieß, die konzertante Opernaufführung aber keine wünschenswerte Alternative darstellte. Immerhin hat er in Paris den Ring aufgeführt, der wegen der „Entgermanisierung“ der Trilogie von der Presse gelobt wurde, und auch hier galt wohl, dass die Aufführung „vertrauter Werke zu einer Uraufführung“ durch ihn wird. Gern aber hat er wohl auch mit begabten Laien wie dem Auch-Pianisten Helmut Schmidt zu tun, so dass es eine Aufnahme mit ihm und Justus Frantz gibt.
Eschenbachs Wirken beschränkt sich nicht auf das Musizieren, sei es am Flügel oder vor dem Orchester, für das Kritiker immer wieder die Transparenz des Klangs hervorheben oder Musiker die Freundlichkeit und den Respekt bei Einstudieren, sondern er hat zu Ehren seiner Eltern die Ringmann-Jaross-Stiftung gegründet, die Universität Frankfurt hat ihm wegen seiner Talentpflege die Ehrendoktorwürde verliehen, und nicht zuletzt dieses Buch macht deutlich, dass diese und andere Ehrentitel mehr als verdient sind, dem Ausspruch „Wenn ich ein Motor sein kann, hier bin ich`s“ gerecht werden.
Noch mit hundert dirigieren möchte Christoph Eschenbach, und auf dem Weg dorthin beginnt er mit Bruckner in Breslau, und der Leser wünscht es ihm von Herzen wie der Verfasserin des Buches eine weitere Begleitung des Künstlers und eine so kenntnisreiche wie liebevoll-parteiische Dokumentation der nächsten zwanzig Jahre.
Der Anhang umfasst Auszeichnungen, Preise und Ehrungen; Dirigentenpositionen und künstlerische Leistungen; CD-Tipps, Namensregister wichtiger Freunde und Wegbereiter, Danksagungen.
Ingrid Wanja, 25. Februar 2025
Margarete Zander: „Christoph Eschenbach. Lebensatem Musik„
Jaron Verlag Berlin 2025
250 Seiten
ISBN 978 3 89773 180 6