Bücherecke: „Wagner und Russland“, Eckard Kröplin

Von Riga bis Petersbug und Moskau. Wagners Vita stand lebenslang im Banne Russlands. Eckart Kröplin hat nun die erste Monographie zum großen Thema „Wagner und Russland“ veröffentlicht.

Im dritten Teil (1850-1861) seiner Autobiografie „Mein Leben“ berichtet Wagner über die Bekanntschaft eines bemerkenswerten Russen: „Auch Wilhelm Baumgartner, mein alter Züricher Bekannter, ließ sich mir zuliebe auf einige Wochen in Luzern nieder. – Schließlich kam aber noch Alexander Serow aus Petersburg, um einige Zeit in meiner Nähe verbringen zu können, an: ein sonderbarer, intelligenter Mensch von ausgesprochener Parteinahme für Liszt und mich. Er hatte in Dresden meinen »Lohengrin« gehört und wollte nun Weiteres von mir erfahren, wozu ich durch den Vortrag meiner Tristan-Komposition in der mir eigentümlichen summarischen Vortragsweise verhelfen musste. Mit Draeseke bestieg ich auch den Pilatus, bei welcher Gelegenheit ich wieder sympathische Ängste für einen mit Schwindel behafteten Gefährten zu erleiden hatte. Zum Abschied lud ich ihn noch zu einer Partie nach Brunnen und dem Grütli ein; worauf wir uns für jetzt trennten, da seine bescheidenen Mittel ihm keinen längeren Aufenthalt gestatteten und auch ich ernstlich an meine Abreise dachte.“ Es war die früheste von mehreren Begegnungen Wagners mit Serow.

Alexander Serow war nicht nur einer der bedeutendsten russischen Musikkritiker zwischen 1850 und 1870, sondern auch ein bemerkenswerter Opernkomponist. Serows Bewunderung für Richard Wagner machte ihn den Musikern des „Mächtigen Häufleins“ suspekt, jenen russischer Komponisten, bestehend aus Mili Balakirew, Alexander Borodin, César Cui, Modest Mussorgski und Nikolai Rimski-Korsakow. Diese Komponisten vereinte das Ziel, einen authentischen russischen Musikstil zu entwickeln, der auf der russischen Volksmusik und Folklore basierte und der zunehmenden „Verwestlichung“ der Musik entgegentrat. Dennoch wurde Serow zu Wagners wohl größtem Fürsprecher in Russland, der eine beispiellose russische Wagnerbegeisterung in Gang setzte.

Wagner und Russland, das ist ein großes Thema. Von frühester Kindheit an prägte Russland das Leben Richard Wagners. Und doch hat sich bisher fast kein Wagnerlexikon oder Wagnerhandbuch dem Themenkomplex „Wagner und Russland“ gewidmet, also der für den Komponisten nicht unwesentlichen Wertschätzung seines Werks in Russland, seiner Rezeption ebendort und seinen biografischen Bezügen zu diesem Land. Russland wurde immer schon, lange vor Putin und seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine, vom Westen mit Unbehagen, wo nicht mit Angst betrachtet, so Kröplin. Kein Wunder, dass in der deutschsprachigen Wagnerliteratur dieses Thema „bis heute als peripher, als nicht eigentlich darstellbar“ galt, so beklagt der Autor in seiner Sympathie für alles Russische, aus der er keinen Hehl macht. Der renommierte Musik- und Theaterwissenschaftler, ausgewiesene Wagnerkenner (mit zahllosen Publikationen zu Wagner) und seit 1984 bis zum Ende der DDR Chefdramaturg und Stellvertreter des Intendanten an der Semperoper in Dresden, schildert in elf Kapiteln die biographischen wie künstlerischen Berührungspunkte Wagners mit Russland, aber er schreibt auch Erhellendes über Wagners russische Förderer und Mäzene, allen voran die Großfürstin Helena Pawlowna.

Wie man bei Kröplin nachlesen kann, wurde Richard Wagner von Wagners Stiefvater, dem Dresdner Schauspieler und Porträtmaler Ludwig Geyer, der wohl mitnichten Wagners leiblicher Vater war (wie Kröplin anmerkt) schon als Kleinkind der kleine „Kosak“ genannt. Richard war ein sehr lebendiges Kind. Sein Geburtsjahr 1813 fiel in die Blütezeit der Kosaken-Furcht wie -Begeisterung im Gefolge der Leipziger Völkerschlacht, die in Literatur wie Bildender Kunst ihre Spuren hinterließ, wie Eckart Kröplin in seinem weit ausholenden Buch eingehend darstellt.

Wagners erster Kontakt mit Russland kam zustande, als er im Juni 1837 von Theaterdirektor Karl von Holtei als Kapellmeister in Riga engagiert wurde, Riga war russisch vom Jahr 1710 bis zum Ersten Weltkrieg (1917). Im Großen Nordischen Krieg wurde Riga am 4. Juli 1710 von russischen Truppen unter Zar Peter dem Großen erobert. Das Vergnügen der Anstellung es 24-jährigen dauerte zwar nur kurz (von August 1837 bis Juli 1839), aber Wagner machte als angehender Theatermann, als Musiker und Chefdirigent am Stadttheater in Riga wertvolle Erfahrungen, die ihn prägten.

Er dirigierte ein beachtliches Opern- und Konzertrepertoire, last but not least arbeitete er in Riga an seinem „Rienzi“. Schon damals ein Halodri in Geldangelegenheiten, wurde er von dem neuen Direktor des Stadttheaters, dem aus St. Petersburg stammenden Tenor Hoffmann, wegen seiner Schulden entlassen, was seinem Aufenthalt in Riga ein Ende setzte. Wagner und seine Frau Minna (samt Neufundländer) flüchteten – von Gläubigern verfolgt – bei Nacht und Nebel ohne Pässe über die russisch-ostpreußische Grenze. Die dann folgende abenteuerliche Schiffsreise, die über London nach Boulogne-sur-Mer führte, inspirierte ihn zum „Fliegenden Holländer“.

Auch ein großes Russland-Gastspiel gehörte zu Wagners Vita. Im Frühjahr 1863 wurde Wagner von der Petersburger Philharmonischen Gesellschaft zu einigen Konzerten eingeladen. Initiator war der bereits erwähnte Alexander Serow, ein großer Verehrer Wagners, der damals bei der ob Wagners politischer Vergangenheit skeptischen Obrigkeit die Genehmigung für das Gastspiel erwirkt hatte. Wagner, von finanziellen Problemen geplagt, nahm dankend an.
Auf dem Programm der drei Petersburger Konzerte standen neben eigenen Werken auch Beethovens dritte und fünfte Sinfonie. Die Kritik und das Publikum waren hellauf begeistert und feierten Wagners Kompositionen ebenso wie sein Dirigat des 130 Mann starken Orchesters der Petersburger Philharmonischen Gesellschaft. Im Palais der Großfürstin Helena Pawlowna traf Wagner auf den Komponisten und Pianisten Anton Rubinstein. Ende März reiste Wagner für drei ebenfalls gefeierte Konzerte nach Moskau, wo er die Bekanntschaft mit Nikolaus Rubinsteins, dem Direktor der „Russischen Musikalischen Gesellschaft“, machte. In Teegesellschaften der Großfürstin las er Texte aus den „Die Meistersingern von Nürnberg“ und dem „Ring“ vor, bevor er Ende April für weitere Konzerte nach St. Petersburg zurückkehrt. Man erfährt viel und Detailliertes darüber bei Kröplin, auch dass die Gastspiele Wagners unterm Strich alles andere als ein finanzieller Erfolg waren.

Dennoch: Die russische Kultur entwickelte zu kaum einem anderen ausländischen Komponisten eine so intensive Beziehung wie zu Wagner, allerdings polarisierte Wagner selbst in Russland (nicht nur in Deutschland) sein Publikum, was Kröplin nicht verschweigt. Die Musiker der „Neuen russischen Schule“, deren Ideal die wahrheitsgetreue Abbildung der Welt war, lehnten Wagners romantisches Musikdrama zunächst ab und fanden erst um die Jahrhundertwende zu ihm. Doch nach den Konzerten des Jahres 1863 gehörte Wagner an russischen Theatern zum Kern-Repertoire. Bis 1914 wurde in St. Petersburg allein Lohengrin 135 mal aufgeführt, Tannhäuser 137 mal. Außerdem beeinflusste Wagners Werk maßgeblich die russischen Symbolisten (Wjatscheslaw Iwanow, Andrei Bely und Alexander Block), die es als Gegenmodell zu Naturalismus und Materialismus feierten. Der enthusiastischste Wagnerianer Tschaikowsky, der den Meister aus Bayreuth auch persönlich kennenlernte. Er nannte ihn einen „Don Quixote“. Auch die Vertreter des „Mächtige Häufleins“, aber ebenso Skrjabin, Turgenjew, Tolstoi und Dostojewski sowie die Theaterleute Lunatscharski und Lossew kommen in Kröplins Buch zu Wort.

Natürlich widmet er große Aufmerksamkeit Wagners Verhältnis zum durchaus faszinierenden russischen Berufs-Revolutionär Bakunin (der überall in Europa gern mitzündelte), der dem russischen Uradel entstammte und eine wohlgebildete, sanfte Seele gehabt haben soll. Wagner lernte ihn in Dresden kennenlernte. Die beiden standen sich während der Revolution von 1848/49 in Dresden sehr nahe und kämpften Seite an Seite auf den Dresdner Barrikaden. Im Laufe ihrer Zusammenarbeit distanzierten sie sich allerdings voneinander. Bakunin wählte später den eher politischen Weg, während Wagner sich auf die Kunst und den Rückzug ins Private konzentrierte. Wagner hat sich in „Mein Leben“ allerdings rührend an Bakunin erinnert. Beide endeten im Exil.

Kröplin schildert das Verhältnis russischer Musiker und Dichter zu dem deutschen Komponisten sehr differenziert, aber er legt großen Wert auf die Feststellung der Tatsache der zeitweiligen Dominanz Wagnerscher Opern im Repertoire der Opernhäuser und Konzertsäle des Landes. Er betont Wagners herausragende Bedeutung für russische Künstlerkreise, aber auch seine widerspruchsvolle Rezeption nach der Oktoberrevolution und unter der Stalinherrschaft. Nur sehr kurz beleuchtet wird im letzten Kapitel „Wagner jenseits der Sowjetunion“, also die neue Wagnerbegeisterung der letzten Jahrzehnte seit etwa der umstrittene, weil Putin-treue Dirigent Valery Gergiev einen neuen Wagnerboom in den „Russisch-deutschen Kulturbeziehungen“ ausgelöst habe.

„Es geht – am Beispiel Wagners – um widerspruchsvolle historische Entwicklungen im deutsch-russischen und russisch-deutschen Kulturaustausch, die in ihrer kunsthistorischen Spezifik ein ganz eigenwilliges nicht nur künstlerisches, sondern eben auch politästhetisches Gepräge tragen. Wagner ist damit ein historisch einzigartiges Beispiel. Kein Musiker je zuvor verkörperte in so herausragendem Maße eine Rolle als Spieler und Spielball, als Idol und Popanz zugleich im historischen Spannungsfeld künstlerischer und gesellschaftlicher Beziehungen zwischen zwei großen Nationen und stand da häufig im Mittelpunkt auch höchst unkünstlerischer Interessen politischer Machthaber – dem sächsischen König Friedrich August I., dem bayerischen König Ludwig II. und den deutschen Kaisern Wilhelm I. und Wilhelm II. sowie den russischen Zaren Alexander II., Alexander III. und Nikolai II. bis hin zu den Sowjetführern Wladimir Lenin und Josef Stalin und dem faschistischen , „Führer“ Adolf Hitler. Ein so unikales, aber auch so gefährliches und so nahes Beieinander, Miteinander und Gegeneinander von Kunst und Politik am Beispiel Wagner und Russland schien mir einer eingehenderen Betrachtung wert zu sein.“ (Eckart Kröplin)

Zahlreiche Abbildungen und Literaturhinweise vervollständigen diese lange erwartete Monographie.

Dieter David Scholz, 4. September 2025


Eckard Kröplin: Richard Wagner und Russland

2025

359 S., 10 s/w-Abbildungen, 44 Farbabbildungen.

J.B. Metzler. ISBN 978-3-662-70403-5