Feuilleton: „Die Wiederentdeckung von Lise Cristiani an ihrem 200. Geburtstag“

Lange Zeit kannte man nur ihren Namen als Widmungsträgerin des einzigen Lied ohne Worte für Cello von Felix Mendelssohn. Am 4. Dezember wäre sie 200 Jahre alt geworden. Nun erscheint die erste Biografie dieser außergewöhnlichen Frau, die es als Erste wagte, mit einem Cello auf eine Konzertbühne zu steigen, und die als erste westliche Musikerin 1849 ganz Sibirien durchquerte, bis sie nach 36.000 Kilometern in abenteuerlichsten Umständen vollkommen erschöpft im Kaukasus starb, 27 Jahre alt.

Das einzig bekannte Portrait «Mlle Lise Cristiani – Dessin de Mettais d’après une peinture de M. Couture», erschien 1863 in Le Tour du Monde. © Dokumentation Waldemar Kamer

Lise Cristiani (1825–1853) ging in die Geschichte ein als erste Frau, die sich den Konventionen ihrer Zeit widersetzte, indem sie 1844/5 in Paris mit einem Cello auf ein Konzertpodium stieg. Sie schimmerte wie eine Sternschnuppe, faszinierte zwei Jahre lang ihre Zeitgenossen und geriet dann ebenso schnell wieder in Vergessenheit. Lise war geheimnisvoll, groß, schlank und von einer „römischer Schönheit“, wie Corinne, die Heldin des gleichnamigen Romans von Madame de Staël, mit der sie oft verglichen wurde. Als elegante Pariserin wusste sie ihr langes schwarzes Haar zu bändigen mit einer mit Rosen verzierten Samtkopfbedeckung, die man „des Christiani” nannte. Sie besaß Charme, Bildung und sehr viel Esprit. Ihre Briefe zeugen davon, und ihre brillante Konversation war angeblich „wie ein Feuerwerk“. Ohne sich um Konventionen zu kümmern, sprach sie im gleichen Ton mit einem König, einer Königin oder einem Prinzen wie mit Arbeitern, Strafgefangenen oder Bauern. Sie war nicht nur eine herausragende Musikerin, sondern eine für ihre Zeit außergewöhnliche Frau.

Niemand wusste, woher sie kam, sodass man sie mit Schillers Das Mädchen aus der Fremde verglich: „In einem Thal bei armen Hirten Erschien mit jedem jungen Jahr,
Sobald die ersten Lerchen schwirrten, Ein Mädchen, schön und wunderbar. / Sie war nicht in dem Thal geboren, Man wußte nicht, woher sie kam, Und schnell war ihre Spur verloren,
Sobald das Mädchen Abschied nahm. / Beseligend war ihre Nähe Und alle Herzen wurden weit, Doch eine Würde, eine Höhe Entfernte die Vertraulichkeit.“ Lise liebte Rätselhaftes. Sie nannte ein Gelegenheitsstück, das sie in das Album einer Freundin schrieb, „Pour casse-tête“ (für Denksport), und sie erfand viele weitere Enigmen, um diejenigen in die Irre zu führen, die Genaueres über sie erfahren wollten. So schrieb sie: „Ich werde das Geheimnis meines Alters nicht zu Papier bringen“ und „Lise B. Cristiani, das ist mein wirklicher Name“ – obwohl er es nicht war. Bei solchen Fragen ließ sie gerne Einiges im Dunkeln.

Nach ihrem Tode führte ihre Familie dieses Rätselspiel fort, ließ Dokumente verschwinden und behauptete, das ganze Familienarchiv sei während des Deutsch-Französischen Krieges 1870 verbrannt. Da auch die Pariser Archive zusammen mit dem Rathaus in Flammen aufgegangen waren, wurde jegliche Überprüfung unmöglich. So haben seit dreißig Jahren mehrere Biografen das Handtuch geschmissen, da sich kein einziges verlässliches Dokument finden ließ, weder Geburtsakte noch Sterbeurkunde und man nicht einmal ihren wirklichen Namen fand. Doch nach vier Jahren intensiven Recherchen – bis zu Archiven in Moskau, New York, Stockholm und Cremona – haben sich nun viele Geheimnisse gelüftet. Es fanden sich auch Lises Konzertprogramme, die es Sol Gabetta nun ermöglichten, eine CD und ein Konzertprogramm zu konzipieren, mit denen sie schon seit zehn Jahren nicht weiterkam.

Felix Mendelssohn Bartholdy, Autograph der Romance sans paroles, dédiée à Mlle Lise Cristiani! (Opus 109) – lange Zeit der einzige Grund, weswegen ihr Name nicht vergessen wurde. © Bibliotheka Jagiellónska, Krakau

Die nun enthüllte Realität übertrifft die Fiktion: Lise B. Cristiani (ein italianisierter Künstlername, von dem mindestens fünfzehn verschiedene Schreibweisen vorliegen) wurde nicht am Weihnachtsabend 1827 als Elise Chretien geboren, verlor nicht sogleich beide Eltern und wuchs auch nicht in wohlhabenden Verhältnissen auf, wie es in den Musiklexika steht. Die endlich auf einem Speicher gefundenen Familienarchive belegen, dass Lise am 4. Dezember 1825 im Pariser Faubourg Saint-Denis als Agathe Barbier geboren wurde, als uneheliches Kind wie ihre Mutter (die 1850 starb). Als Lise, ihrer Verherrlichung und Verklärung überdrüssig, einem deutschen Prinzen offenbarte „Ich wurde in der Gosse von Paris geboren“, sorgte dies für ein solch großes Aufsehen, dass sogar eine Zeitung in New York kommentierte: „emancipated in the noblest sense of the word, proud of her origin amongst the lowest classes of the people, a queen of the Cellos […] born in the gutters of Paris.”

Lise wuchs als von ihrer Mutter ungewolltes Kind bei ihrer Großmutter auf, der Schauspielerin Agathe Richard. Diese hatte selbst vier uneheliche Kinder bekommen, bevor sie 1818 Alexandre Barbier heiratete, einen ehemaligen „Lancier rouge“ der Leibgarde Napoleons, der nach Waterloo entschied, Maler zu werden, und mit dem Agathe zwei weitere Kinder bekam. Ihr Sohn Jules Barbier wurde 1825 geboren, im selben Jahr wie Lise, und beide wuchsen wie Geschwister auf. Sie bekamen eine solch kunstorientierte Erziehung, dass sie bereits im Alter von sechs Jahren kleine Theaterstücke schrieben und zusammen von dem zukünftigen Ruhm träumten, den jeder auf seine Weise erlangen sollte, für Jules als Theaterautor, Dichter und anerkannter Librettist von Bizet, Gounod, Meyerbeer, Offenbach, Saint-Saëns und Ambroise Thomas (Hamlet, Faust, Les Contes d’Hoffmann etc.).

Alexandre Barbier, ein äußerst origineller selfmade-man und Ehemann einer starken selfmade-woman, ersann den verwegenen Plan, Lise als erste professionelle Cellistin zu lancieren – ein Vorstoß, der 1844 als höchst transgressiv empfunden wurde. Denn obwohl man akzeptierte, dass Frauen dieses Instrument erlernten – die allererste Celloklasse am Pariser Konservatorium war 1795 bereits gemischt –, erwartete man von ihnen, dass sie nur privat und keinesfalls öffentlich auftraten. In den Pariser Salons – und folglich auch in den Konzertsälen – waren für Damen nur drei Instrumente zugelassen: das Klavier (als Nachfolger des Virginals), die Harfe und eventuell die Gitarre. Jedes andere Instrument stieß auf das damals sehr heikle Problem der nicht erlaubten Zurschaustellung eines weiblichen Körperteils, wie zum Beispiel der Brustkorb einer Geigerin. Diese strengen Vorschriften wurden erst allmählich in den 1830er Jahren durchbrochen durch die neuen „Wunderkinder”, die aufgrund ihres jungen Alters als entsexualisiert galten. Wenn es schon schwer akzeptabel war, dass eine Frau beim Geigenspiel ihre Brust zeigte, war es absolut undenkbar, dass sie in der Öffentlichkeit ihre Beine spreizte, um ein Cello zu halten (der heute gängige Cello-Stachel wurde bis 1850 anscheinend nur durch den belgischen Virtuosen François Servais benutzt). Im Jahr 1844 gab es in Paris nur eine einzige Cellistin, eine „Amateurin”, wie es der Dictionnaire historique des musiciens von Choron & Fayolle präzisiert. Sie spielte also lediglich zum Vergnügen und ohne Bezahlung – im Gegensatz zu einer professionellen Musikerin, für die das Spielen ihr Beruf und Einnahmequelle ist.

Lises erste diskreten Auftritte im Frühjahr 1844 lösten eine Lawine von Kommentaren aus, da sie gegen die guten Sitten verstießen. Sogar im Ausland, denn eine Wiener Zeitung kommentierte empört: „Eine Violoncellistinn!!! soll sich in einem Pariser Salon produciren mit Namen Christiani-Barbier und zwar mit großem Beifall. – Das sind die Früchte der Frauen-Emanzipation!“. Als Reaktion auf diese Angriffe wurde das gewagte Projekt des 18-jährigen Mädchens offen von den einflussreichsten Cellisten in Paris unterstützt. Bernard Benazet (1781-1846), ihr renommierter Lehrer, mobilisierte seine Kollegen, um seine Lieblingsschülerin zu unterstützen. So gaben Alexandre Batta (1816-1902) und Jacques Offenbach (1819-1880) ihr handschriftliche Kopien ihrer noch unveröffentlichten Werke, mit denen sie brillieren konnte. Bei ihren ersten Auftritten in den Pariser Salons wurde Lises Spiel gelobt als „sanft wie das von Batta”. Jacques Offenbach war eher von ihrem Temperament begeistert und schenkte ihr insbesondere seine Prière et Boléro aus seiner Grande scène espagnole, mit Kadenzen, die Kraft und Virtuosität erfordern und zu einem ihrer Lieblingsstücke wurden. Später widmete er ihr auch eine Sérénade und stimmte zu, dass Lises Name auf der ersten Seite einer Neuauflage seiner Musette platziert wurde. Mit dieser ungewöhnlichen Kombination aus sanftem „weiblichem” Spiel und „männlicher” Virtuosität gelang Lise – die inzwischen von der Pariser Prominenz und auch der königlichen Familie anerkannt wurde – am 14. Februar 1845 in der Salle Herz ein sensationelles Debüt. Einige Journalisten wie Théophile Gautier fühlten sich noch immer verpflichtet, das „Caprice” einer Dame, öffentlich Cello zu spielen, als „pikant” zu kommentieren, aber Hector Berlioz brachte alle Kritiker zum Schweigen, indem er erklärte, dass „die Virtuosin und das Instrument perfekt harmonierten”. Er lobte ihr Spiel „mit viel Selbstbewusstsein, Kühnheit und Wohlgefallen” und zählte Lise zu den drei Talenten, die damals in Paris hervortraten.

«Dîner chinois» in Le Tour du Monde (1863) – so stellte man sich nachträglich ihre Reise an die chinesische Grenze vor. Die Wirklichkeit war ganz anders…
© Dokumentation Waldemar Kamer

Unmittelbar nach ihrem offiziellen Debüt (sieben Auftritte in Paris) begab sich Lise auf eine einjährige Europatournee, wo sie das Femininum des Cellos etablierte, wie es der Musikkritiker und Dichter Ludwig Rellstab mit Achtung feststellte. Sie begann in Wien, wo sie einen wahren Triumph feierte: „Noch nie wurde ein Künstler so bejubelt!“. Danach ging es weiter in die Sommerhauptstadt Europas, Baden-Baden, wo sie mit Alexandre Batta im Casino auftrat. In Leipzig rollte Felix Mendelssohn ihr den roten Teppich aus: Sie wurde bei ihm zu Hause empfangen und konnte im Gewandhaus direkt nach Clara Schumann spielen. Er komponierte für sie das einzige seiner 49 Lieder ohne Worte, das nicht für Klavier, sondern für Cello geschrieben ist, mit dem einzigen französischen Titel: Romance sans paroles, dédiée à Mlle Lise Cristiani! (Opus 109). Als Dank schrieb sie in sein Album ein Andante (das als verschollen galt und nun an ihrem Geburtstag in Paris uraufgeführt wird). In Berlin wurde sie zur Löwin des Tages ausgerufen und löste eine fast mystische Begeisterung aus: Man verglich sie mit einer Priesterin Apollos, einer Druidin, und nach einem Konzert – zu dem auch Fanny Mendelssohn kam, um ihre Kollegin zu unterstützen – „bildete sich eine neue religiöse Sekte, die sich Neo-Christiani nennt”. In Kopenhagen wurde sie 1846 erwartet als „leuchtender und blendender Planet, der sich am Himmel der Kunst bewegt” – im Vergleich zu ihr schien die Virtuosität von Liszt oder Paganini nur noch „mechanisch”. König Christian VIII. ernannte sie zur „Cellistin Seiner Majestät des Königs von Dänemark” – als erste Frau. In Stockholm unterzeichneten die Musiker des Orchesters eine Petition, um Lise am Königlichen Theater zu engagieren, womit sie die erste Frau in einem großen Orchester geworden wäre – weltweit!

Je mehr sie sich dem Nordpol näherte, desto heller strahlte ihr Stern. Aber als sie 1847 in Sankt Petersburg ankam, stürzte „der leuchtende und blendende Planet“ plötzlich vom Himmel, fast auf den Tag genau zwei Jahre nach seinem ersten Aufleuchten. Aus ganz anderen Gründen, als bis jetzt geschrieben wurde: Lise hatte inzwischen genug von den Aristokraten und der feinen Gesellschaft, von denen sie finanziell abhängig war, wie auch von den Musikkritikern, die sie abqualifizierte als „pedantisch wie die Glockentürme einer Universitätsstadt“. Sie wollte nun andere Horizonte entdecken und auch für Menschen spielen, die noch nie ein Cello gesehen oder gehört hatten. Anstatt, wie geplant, mit dem Schiff zurück nach London und Paris zu segeln, entschied sie sich für die sumpfigen Pfade des Fernen Ostens. So durchquerte sie 1849 als erste westliche Musikerin überhaupt die sibirischen Steppen, um dort die ersten nachweisbare Konzerte zu geben – bis nach Petropawlowsk auf Kamtschatka. Da es damals dort weder Züge noch markierte Straßen oder Brücken gab, reiste sie hauptsächlich im Winter mit dem Schlitten über zugefrorene Flüsse und legte so mehr als 19.000 Kilometer zurück bei Temperaturen von minus 40 Grad. Um sich zu wärmen, schmiegte sie sich an ihren „schönen, lieben, edlen Gatten”, ihren „Seigneur Stradivarius”, wie sie schrieb, den sie liebevoll in Wolfsfelle hüllte. Nie zuvor ist ein Cello aus Cremona – heute Le Cristiani – so weit gereist und hat solche Abenteuer überlebt. 1850 kehrte das reisende Paar, „das nichts außer dem Tod trennen sollte”, völlig erschöpft nach Moskau zurück. Anstatt nach Frankreich zurückzukehren, um sich dort behandeln zu lassen, brachen sie 1852 zu einer letzten Reise in den Kaukasus auf, ganz bis nach Tiflis in Georgien.

Von Fieber und Schwindsucht geschwächt, stellte sich Lise mutig dem Tod vor den Militärlagern der Kaukasus-Front, wo sie als erste Frau für einfache Soldaten spielte und sang. Doch sie fand dort nicht, wie erhofft, einen schnellen Tod durch eine tschetschenische Kugel. Auf dem Rückweg erwischte sie den „blauen Tod“ und starbt innerhalb von 24 Stunden an Cholera, am 14. Oktober 1853 in Nowotscherkassk bei Rostow am Don, im Alter von 27 Jahren. Als sie auf ihrer ausgedehnten Russland-Tour – insgesamt 36.000 Kilometer! – den großen Virtuosen François Servais in Kiew traf, berichtete ein Zuhörer: „Wenn man dem belgischen Cellisten zuhört, spitzt man die Ohren, aber bei der kleinen Französin hört man mit dem Herzen.“ Denn Lise Cristiani war nicht nur eine Virtuosin auf dem Cello, sie war auch eine gebildete Frau mit einem großen Herzen.

Anlässlich ihres 200. Geburtstags erscheint nun die erste Biographie: Lise Cristiani von Waldemar Kamer und René de Vries (Paris, bleu nuit éditeur – auf Französisch).

Die erste Biographie von Waldemar Kamer und René de Vries
(Paris, bleu nuit éditeur, mit Unterstützung des Palazzetto Bru Zane)

Gleichzeitig eine erste CD: Sol Gabetta – Lise Cristiani (Sony), mit dem Repertoire von Lise Cristiani: die Hälfte der Stücke sind Weltersteinspielungen! Und eine große Tournee von Sol Gabetta mit der Cappella Gabetta, beginnend am 8. Dezember in München (Prinzregententheater), 9. Bielefeld (Rudolf-Oetker-Halle), 10. Hamburg (Elbphilharmonie), 11. Düsseldorf (Tonhalle), 13. Köln (Philharmonie) etc.

CD: Sol Gabetta – Lise Cristiani (Sony)

Die „Auferstehung“ kulminiert symbolischerweise an Ostern 2026 in ihrer Geburtsstadt Paris, wo eine Straße nach Lise Cristiani benannt werden soll, damit man sie nicht wieder 150 Jahre lang vergisst.

Waldemar Kamer


Alle Informationen auf www.lisecristiani.com (Biografie, Bücher, CD, Filme und Veranstaltungen)