Ich werde nicht müde, mich für die Oper Die Passagierin von Mieczyslaw Weinberg zu begeistern. Dreimal habe ich sie schon gehört, die Partitur studiert, und jedes Mal verstand ich die Schönheit und Größe dieser Musik besser. Ein in Form und Stil meisterhaft vollendetes Werk und dazu vom Thema her ein höchst aktuelles…Die Musik der Oper erschüttert in ihrer Dramatik. Sie ist prägnant und bildhaft, in ihr gibt es keine einzige ‚leere‘, gleichgültige Note. Dieses in hohem Maße enthusiastische Postulat über Weinbergs Passagierin, für die Alexander Medwedjew das Libretto verfasste und die die beste und bedeutendste Oper der Jetztzeit darstellt, stammen von keinem Geringeren als Dmitry Schostakowitsch. Sie sind im Vorwort des Klavierauszugs der Passagierin abgedruckt. Diesen begeisterten Worten des Freundes und großen Mentors Weinbergs Schostakowitsch kann man sich von ganzem Herzen anschließen. Bei der Passagierin haben wir es mit etwas ganz Einzigartigem zu tun, mit einem Werk von erlesenster Güte, ungemein hoher Kraft und Intensität sowie immenser Eindringlichkeit. Der geistige und musikalische Gehalt des Stückes ist enorm, die Botschaft von zeitloser Gültigkeit. Ebenfalls extrem außergewöhnlich ist die Wirkung, die die Passagierin auf das Auditorium hat. Diese Oper verlässt man anders als andere Werke des Musiktheaters. Man fühlt sich in höchstem Maße ergriffen, berührt und sogar beklommen. Die Passagerin erschließt sich dem Zuhörer auf einer unterschwelligen, gefühlsmäßigen Basis, die er zunächst kaum spürt, die ihn dann aber umso stärker packt.
Dieser grandiose Eindruck wird bei der hier vorliegenden DVD bestätigt. Aufgenommen wurde sie am 11. und 12. Februar 2021 in der Oper Graz. Um es vorwegzunehmen: Diese DVD ist höchst empfehlenswert. Jeder Opernfreund sollte sie sich zulegen. Der Kauf lohnt sich! Das Geld ist gut angelegt! Für die Veröffentlichung der phantastischen Inszenierung von Nadja Loschky in dem Bühnenbild von Etienne Pluss und Irina Spreckelmeyers Kostümen auf DVD kann man der Oper Graz und dem Label NAXOS nur ein allerherzlichstes Dankeschön aussprechen. Dieser vorzügliche Video-Mitschnitt hat wahrlich das Zeug zur DVD des Jahres. Es ist unmöglich, von der Passagierin nicht in hohem Maße, extrem und zutiefst ergriffen zu werden und diese hochkarätige DVD, die einen der kostbarsten Edelsteine ihrer Gattung darstellt, nicht mit höchster Begeisterung in sich aufzusaugen. Der Eindruck ist überaus mächtig. Bravo!
Der jüdisch-polnische Komponist Weinberg, der bereits in jungen Jahren vor der in sein Heimatland einmarschierenden Armee der Nazis in die UdSSR fliehen musste und die restliche Zeit seines Lebens dort im Exil verbrachte, greift in seiner Passagierin, die in der UdSSR aus ideologischen Gründen lange Zeit auf dem Index stand und aus diesem Grund dort nicht aufgeführt werden durfte – das hat sich erst in letzter Zeit geändert -, das schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte auf: den Holocaust und die Gräuel in den Konzentrationslagern. Zugrunde liegt der Oper der gleichnamige Roman – im Original: Pasazerka – der polnischen Auschwitzüberlebenden Zofia Posmysz, in dem diese ihre Erlebnisse in der Hölle von Auschwitz mit ungeheurer Radikalität schildert und dabei neben der Hauptproblematik von Schuld und Sühne auch auf die Verdrängungsmentalität der Nachkriegszeit ein eindringliches Licht wirft. Weinberg, der einen Großteil seiner Familie in den Gaskammern der Nazis verlor, und Medwedjew haben die Grundstruktur von Frau Posmysz‘ Buch in ihrem Werk beibehalten und nur wenige Änderungen vorgenommen, um einzelne Handlungsstränge dem Opernsujet anzupassen.
Geschildert wird die Geschichte der ehemaligen KZ-Aufseherin Lisa, die Ende der 1950er Jahre auf einer Schiffsreise nach Brasilien, wo ihr Ehemann Walter seinen neuen Posten als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland antreten soll, in einer mitreisenden Passagierin einen einstigen Auschwitz-Häftling, Marta, zu erkennen glaubt, die sie längst für tot hält. Diese Begegnung ruft in ihr Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager wach. Ihre verdrängte Vergangenheit steigt zunehmend wieder an die Oberfläche. Sie sieht sich in Auschwitz in ihrer alten Rolle als junge KZ-Wärterin. Ihr gegenüber steht Marta, zu der sie eine ganz persönliche Beziehung aufbaut und der sie sogar ein Treffen mit ihrem ebenfalls gefangenen Verlobten Tadeusz – dieser ist in der Oper im Gegensatz zum Buch nicht bildender Künstler, sondern Geiger – ermöglicht, die sie aber am Ende doch in den Todesblock schickt. Wie Marta dem Tod letztlich entrinnen konnte, ist ein großes Geheimnis, das unaufgeklärt bleibt. Unter der übermächtigen Last ihres schlechten Gewissens gesteht Lisa ihrem entsetzten Mann schließlich alles, wobei auch die Stimmen der Vergangenheit eine ausführliche Rückschau einfordern: Jetzt mögen andere sprechen! Die Hölle von Auschwitz wird für Lisa zum Inferno ihrer Erinnerungen. Im Folgenden spielen sich die einzelnen Szenen abwechselnd auf dem Ozeandampfer und in Auschwitz ab. Es ist eine erschütternde Geschichte, deren Zeuge der Zuschauer hier wird. Weinbergs Passagierin stellt einen stark unter die Haut gehenden, beklemmenden Kontrapunkt gegen das Vergessen dar, ein flammendes Plädoyer gegen jede Art des Verdrängens mit den Mitteln des Musiktheaters.
Hervorragend gelungen ist die Inszenierung von Nadja Loschky, die hier wieder einmal den Beweis erbringt, dass sie zu den ersten Vertreterinnen der Regiezunft gehört. Ihre Herangehensweise an das Werk ist trefflich durchdacht und spannend umgesetzt. Die Personenregie ist durchweg stringent und flüssig, sodass es an keiner Stelle langweilig wird. Voll überzeugend ist schon ihr konzeptioneller Ansatzpunkt. Bei ihr sieht man weder ein Schiff noch Auschwitz. Etienne Pluss hat ihr einen abstrakten, grauen Raum auf die Bühne gestellt, in der sich die Geschehnisse sowohl der Gegenwart (Ozeandampfer) als auch der Vergangenheit (Konzentrationslager) abspielen. Dazu gesellt sich noch eine dritte Ebene: Die heutige, in der die alte Lisa auf ihre Zeit auf dem Schiff zurückblickt. Auch diese dritte Ebene wird gekonnt in die anderen beiden Handlungsebenen integriert. Dass die äußerlich Julia Timoschenko nachempfundene Lisa auch als alte Frau von den Geschehnissen auf dem Schiff nicht losgelassen wird, ist verständlich. Zu sehr nagen diese auch noch nach Jahrzehnten an ihrem Inneren. Um das Ganze glaubhaft gestalten zu können, werden zwei Schauspielerinnen herangezogen: Viktoria Riedl ist die junge Lisa und Isabella Albrecht geistert als alte Lisa gleichsam durch die ganze Aufführung, der sie ihren ganz persönlichen Stempel aufdrückt. Die unterschiedlichen Ebenen des Stückes laufen nebeneinander her, verzahnen und überlappen sich, was Nadja Loschky mit Hilfe einer häufig eingesetzten Brecht’ schen Gardine trefflich versinnbildlicht. Alte Erinnerungsstücke werden immer wieder sichtbar. Da kann auch mal der Eindruck eines Museums entstehen. So wenn Lisa Marta auf dem Schiff in einer Vitrine sieht, in der letztere sich von der Passagierin der Gegenwart in den KZ-Häftling der Vergangenheit verwandelt. Auch Walter sieht man später einmal in dieser Vitrine. Sie scheint sämtliche Personen zu beherbergen, die Lisa in der früheren Zeit wichtig waren und an die sie jetzt zurückdenkt. Darüber hinaus scheint sich alles nur im Unterbewusstsein Lisas abzuspielen, die Realität wird praktisch ausgeblendet. Einer psychologischen Sichtweise wird hier seitens der jungen Regisseurin Tür und Tor geöffnet. Sigmund Freud lässt grüßen. Insgesamt gelingen ihr sehr eindrucksvolle Bilder. Da kann man auch mal schmunzeln – so beispielsweise wenn man die drei SS-Männer und die Oberaufseherin auf dem WC erblickt. Die SS-Männer spielen dabei Karten, die Oberaufseherin liest Zeitung. Zu Beginn des zweiten Aktes spielt das – historisch belegte – Frauenorchester von Auschwitz bei einer SS-Party den Walzer des Kommandanten. Dass in Auschwitz zur Beruhigung der Häftlinge sogar beim Gang der Todgeweihten in die Gaskammer Walzer und andere leichte Musik gespielt wurden, ist ebenfalls eine historische Tatsache. Die große Missachtung des Erbes eines Johann Strauß wird hier sowohl von Weinberg als auch von Nadja Loschky rigoros angeprangert. Auch um gute Symbolik ist die Regisseurin nicht verlegen – so im Selektions-Bild des zweiten Aktes, in dem die Häftlingsfrauen, sobald sie ein Schild mit ihrer Nummer an die alte Lisa übergeben haben, tot zusammenbrechen. Das Konzert-Bild spielt in der Leichenhalle von Auschwitz, in der in einer Reihe von Fächern splitternackt aufgebahrte weibliche Häftlinge liegen. Und die die NS-Zeit nicht exakt zitierenden, sondern ihr nur angenäherten Kostüme von Irina Spreckelmeyer mahnen, dass es ein Konzentrationslager wie Auschwitz womöglich auch heute noch geben kann. Es gilt auf der Hut zu sein. Dieses dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte darf sich auf gar keinen Fall wiederholen! Dazu ist es ganz essentiell, darüber zu sprechen. Das ist auch die Ansicht von Zofia Posmysz. Der Schluss der Aufführung gehört ihren auf die Rückwand projizierten Worten: Lange habe ich geglaubt, es gäbe keine Sprache, in der man das beschreiben kann, was damals passiert ist. Aber im Laufe der Jahre bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass wir sprechen müssen. Wir dürfen niemals vergessen. Frau Posmysz hat Recht. Die Erinnerung an diese schrecklichen Dinge gilt es zu bewahren. Das ist alles sehr überzeugend. Dieser Ansatzpunkt der Regisseurin ist in hohem Maße ansprechend! Ohne Zweifel handelt es sich hier um eine der besten szenischen Realisationen dieses hochanspruchsvollen Werkes. Diese Inszenierung von Nadja Loschky stellt einen Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte des Werkes dar und wird mit Sicherheit in die Annalen des Grazer Opernhauses eingehen.
Auch die Musik ist geradezu atemberaubend. Weinbergs Klangsprache gemahnt stark an diejenige von Schostakowitsch. Anklänge an Prokofjew und Britten werden ebenfalls spürbar. Die Partitur der Passagerin fußt auf einer erweiterten Tonalität und weist zudem Elemente der Dodekaphonie auf. Gleichzeitig ist der Klangteppich aber ausgesprochen schön und häufig auch sehr melodiös. In diesem Zusammenhang seien nur die Lieder der weiblichen Häftlinge, der Choral sowie das herrliche Liebesduett zwischen Marta und Tadeusz im zweiten Akt angeführt. Und für die vom Komponisten angewendete Leitmotivtechnik hat augenscheinlich Richard Wagner Pate gestanden. Diese wirkt bei der Passagierin indes nicht direkt, sondern mehr unterschwellig auf den Zuhörer ein. Nichtsdestotrotz bleiben viele Themen nachhaltig in Erinnerung. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang in erster Linie die musikalischen Zitate aus der Musikgeschichte. Als Beispiele seien hier nur Bachs Chaconne aus der Partita Nr.2 d-Moll für Solo-Violine, das Schicksalsmotiv aus Beethovens 5.Symphonie in c-Moll, Schuberts Militärmarsch in D-Dur sowie das Prügelmotiv aus Wagners Meistersingern genannt. Diese phänomenale Musik geht total unter die Haut – erst recht, wenn sie derart grandios vor den Ohren des Zuhörers ausgebreitet wird wie von Roland Kluttig und den phantastisch disponierten Grazer Philharmonikern. Der Dirigent weist den gut gelaunten Musikern in bedächtigen Tempi den Weg durch Weinbergs Partitur und arbeitet gekonnt die unterschiedlichen musikalischen Strukturen heraus. Die einzelnen Leitmotive werden aufs Beste beleuchtet und der Klangteppich mit zahlreichen Emotionen und vielfältigen Farben ausgestattet. Die Folge ist ein ungemein vielschichtiges, differenziertes und ungemein spannungsreiches Dirigat, das viel Freude bereitet. Hier haben Kluttig und sein Orchester eine ganz große Leistung erbracht!
Und was für ein erstklassiges Sängeraufgebot ist auf dieser DVD doch zu hören. Da bleiben praktisch keine Wünsche offen. In der Partie der Lisa gefällt mit volltönendem, bestens fokussiertem und nuancenreichem Mezzosopran Dshamilja Kaiser. Einen ebenfalls perfekt gestützten, warmen und gefühlvollen, vom Mezzo herkommenden Sopran bringt Nadja Stefanoff in die Rolle der Marta ein. Will Hartmann singt mit kräftigem und farbenreichem Tenor den Walter. Ein prägnant singender Tadeusz ist Markus Butter. Durch die Bank gute Leistungen erbringen Tetiana Miyus (Katja), Antonia Cosmina Stancu (Krystina), Anna Brull (Vlasta) Mareike Jankowski (Hannah), Sieglinde Feldhofer (Yvette), Johanna Motulewicz (Bronka) und Ju Suk (Alte Frau). Die recht sonor singenden Ivan Orescanin und David McShane überzeugen als 1. und 2. SS-Mann, während Martin Fournier als nicht im Körper singender 3. SS-Mann abfällt. Den älteren Passagier gibt Konstantin Sfiris. Die Sprechrollen sind bei Uschi Plautz (Oberaufseherin), Maria Kirchmair (Kapo) und Adrian Berthely in bewährten Händen.
Mit Blick auf die ungemein beeindruckende Musik Weinbergs, der tiefgreifenden Relevanz der Oper sowie der insgesamt erstklassigen musikalischen und gesanglichen Leistungen ergeht zum Schluss noch einmal der dringende Aufruf an unsere Leser: Kaufen, kaufen und nochmal kaufen! Diese über die Maßen gelungene DVD zieht einen total in ihren Bann und ist wahrlich etwas ganz Besonderes. Erscheinungstermin ist der 8.7.2022. Ebenfalls mögen die Leser doch bitte für dieses fulminante Werk etwas die Werbetrommel rühren und die Intendanten der von ihnen besuchten Opernhäuser bitten, die Passagierin auf den Spielplan zu setzen.
Ludwig Steinbach 16. Juni 2023