Der Däne Rued Langgaard (1893-1952) war zeitlebens ein unglücklicher Mensch. Fehlende Anerkennung für sein kompositorisches Schaffen und sein endloser Neid auf seinen so erfolgreichen Kollegen Carl Nielsen verdüsterten seine Seele. Dabei war Langgaard ein überaus begabter Komponist, aufgewachsen in einer musikalischen Familie und ein Virtuose an der Orgel. Er probierte alles aus. Kein Stil war im fremd. Er, der so introvertiert war, zeigte sich in seinen Werken voller ekstatischer Klangwirkungen, die er zuweilen als göttliche Eingebungen empfand. Ein seltsamer Zeitgenosse, der seine Umgebung immer wieder durch seine Andersartigkeit überforderte.
Unter seinen sechzehn Sinfonien, die z.T. sehr kurz sind, nimmt seine erste Sinfonie eine Sonderstellung ein. Mit etwas mehr als einer Stunde Spielzeit und einem riesenhaften Orchester wandelte Langgaard auf den Pfaden der „Alpensinfonie“ von Richard Strauss.
Der Titel „Klippen-Pastorale“ versinnbildlicht Naturnähe. Langgaards Vorbilder in dieser Schaffensperiode waren hörbar Tschaikowsky, Wagner und Bruckner. Das Werk weist sehr markante Ideen auf und bietet eine bildhafte Reise vom Fuß des Berges, wo die Brandung an den Felsen bricht, bis man die herrliche, weite Aussicht auf dem Gipfel der Klippen erreicht. Wellen brechen sich, die Brandung rauscht, der Wind zerzaust die Haare, pures Naturerleben.
Langgaard schrieb mit dieser Sinfonie eine geradezu physisch spürbare Erlebnismusik. Jeder Musikfreund, der gewaltige Orchestersteigerungen liebt, wird diese bei Langgaard in seiner ersten Sinfonie im Finale in einer außergewöhnlichen Qualität hören.
Beim Erleben dieser Musik sollte man sich vor Augen führen, dass Langgaard dieses Werk mit gerade einmal fünfzehn Jahren zu komponieren begann! Bei der finalen Fassung war er achtzehn Jahre jung. Wiederum zwei Jahre später war es dann so weit:
1913 erfolgte die überaus erfolgreiche Uraufführung in Berlin mit den Berliner Philharmonikern!
Dem Label DaCapo ist nun eine beeindruckende Ersteinspielung dieser Sinfonie mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sakari Oramo zu danken. Zudem handelt es sich um die Ersteinspielung der neuen kritischen Partiturausgabe aus dem Jahr 2010.
In diesem fabelhaften Live-Mitschnitt aus der Berliner Philharmonie demonstriert Oramo seine profunde Erfahrung mit dem Werk Langgaards sehr überzeugend. Immer wieder setzte er sich bei seinen Gastspielen für diesen Komponisten ein und spielte dessen Sinfonien auch u.a. mit den Wiener Philharmonikern.
Die Berliner Philharmoniker brillieren in dieser Wiedergabe vor allem in den stark geforderten Hörnern, Trompeten, Posaunen und Tuben. Kernig und edel im Klang, dabei ungemein konditionsstark.
Der große Streicherapparat entfaltet eine wunderbare Sonorität, während die Holzbläser feinste pastellfarbene Klangwirkungen ausmusizieren.
Sakari Oramo weiß klug und packend diese Musik zu gestalten. Die Sinfonie ist voll von grandiosen Orchestergesten, von denen einige äußerst wirkungsvoll sind. Die herrlichen Melodien ertönen episch, gewaltig und dann wieder deutlich reduziert. Manchmal droht sich die Musik in ihrem bedeutungsschweren Geraune zu verlieren. Ein guter, wissender Dirigent kann das verhindern. Oramo ist ein solcher Meister, der den Zuhörer klug und spannend durch diese Klangwelt führt. Wie ein Orchester-Regisseur folgt er einer klaren inneren Dramaturgie, setzt hie und da besondere Effekte. Und wie so oft, das Beste kommt zum Schluss. Wie Oramo und die blendenden Berliner Philharmoniker die gewaltigen Finalwirkungen darbieten, ist ein purer Akt der klanglichen Überwältigung, die sich niemals im vordergründigen Lärmen gefällt. Selbst in den gewaltigen Ausbrüchen hört und fühlt Oramo in die Strukturen und Akkordverläufe wissend hinein. Die Musik schichtet sich zu einem gewaltigen Tongebirge auf, ein gigantischer Klangrausch in leuchtenden Farben.
Eine wichtige und mitreißende Aufnahme, die Rued Langgaards jungen Meisterstreich größte Ehre angedeihen lässt. Die dynamische Aufnahmequalität fängt dazu alle Details minutiös ein und sorgt bei den großen Effekten für spektakuläre Klangeindrücke.
Dirk Schauß, 17. November 2022
Rued Langgaard
Sinfonie Nr.1 „Klippenpastorale“
Musikalische Leitung: Sakari Oramo
Berliner Philharmoniker
Label: Dacapo
Art. Nr.: 6.220644