Berlin: „Don Carlo“, Giuseppe Verdi

Sternstunde

Ein Muster an Repertoiretauglichkeit ist seit der Premiere im Jahre 2011 Giuseppe Verdis Don Carlo an der Deutschen Oper, ursprünglich, da für Paris komponiert, Don Carlos wie bei Friedrich Schiller und in nicht weniger als in sieben unterschiedlichen Fassungen verfügbar, fünfaktig oder vieraktig, französisch oder italienisch und sogar auch zugleich italienisch und fünfaktig. Dass die fünfaktige Fassung zwar lang, aber nicht zu lang sein kann und vielerlei Unklarheiten der vieraktigen aufräumen kann, bewies die Visconti-Inszenierung, in der im Fontainebleau-Akt der Infant tapfer Holz sammelte und für die frierende französische Prinzessin ein Feuerchen entzündete, so dass man als Zuschauer nicht erst wie im Verlauf des Vierakters ergründen musste, warum Carlo von Anfang an ein Gebrochener, ein kaum noch zur rettenden Tat für Flandern Fähiger sein kann. Auch können nun die Erinnerungsmotive ihre Funktion als solche nicht mehr erfüllen. Auf Perlenballett und Maskentausch zwischen Königin und Eboli kann man getrost verzichten, schmerzhaft wird es, wenn das später von Verdi im Lacrimosa verwendete Thema in der Klage von Carlos und Roi nicht zu hören ist. Schwer tut sich mancher Regisseur auch mit dem Schluss. Kaum einer mag noch Carlo ins himmlische Reich durch Karl V. entführt sehen, meistens hat der Infant zwischen Selbstmord und Erschießen die Regisseurswahl, in Berlin teilen dieses traurige, streng säkularisierte Schicksal die flandrischen Gesandten. Ein solches widerfährt auch der Stimme von Himmel, welche hier die einer ihres Kindes beraubten irdischen Mutter ist, bei der Lilit Davtyan aber trotzdem engelsgleiche Süße hören lässt.

© Barbara Aumüller/szenenfoto.de

Die Inszenierung von Marco Arturo Marelli war bereits bei der Premiere, auch dank guter Sängerbesetzung, ein Erfolg, behauptete sich sogar während der Corona-Pandemie und konnte damals trotz vieler Einschränkungen und Streichungen (kein Chor und somit kein Autodafé, stumme flandrische Gesandte) das Haus fast vollständig füllen. Schnelle Szenen- und sogar Aktwechsel wurden durch die grauen Quader garantiert, die sich hin und her über die Bühne schieben, aber stets zu einem riesigen, bedrohlichen Kreuz werden, und lassen nie Ermüdungserscheinungen im Publikum aufkommen. Es gab wiederholt Wiederaufnahmen, Anja Harteros, Roberto Scandiuzzi, Rolando Villazon und ein dem Ensemble entsprossener, durch das Urteil von Alfredo Kraus geadelter Yosep Kang sangen in der Produktion, und als eine Elisabetta nach schwachem Beginn schließlich gänzlich verstummt war, sprang von der Seite her singend Hulkar Sabirova ein und hatte damit, inzwischen Hélene in den Vȇpres siciliennes, die Feuertaufe für die großen Verdi-Partien bestanden.

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Nach einem Monat April voller Wagnerproduktionen stehen der Mai und ein Teil des Juni ganz im Zeichen von Verdi mit Aida, Rigoletto, Traviata, Nabucco, französischen Vespri und Don Carlo, der am 29. Mai seine letzte Vorstellung hatte und dem das Haus, bis auf den letzten Platz ausverkauft, dreieinhalb Stunden ungeteilte Aufmerksamkeit (auch von Schülergruppen) und zunehmende Begeisterung bescherte.

Eine schier unglaubliche Entwicklung hat seit ihrer Anna Bolena der Sopran von Federica Lombardi (Elisabetta) durchgemacht, der voller, runder, in der Höhe strahlender geworden ist, dazu entzückte das souveräne, den Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung eindrucksvoll vermittelnde Spiel. So unterschiedliche Anforderungen wie die Canzone di Velo und das O Don fatale der Eboli stellt selten eine Partie, die Irene Roberts gleichermaßen beherrschte und die dazu noch bezaubernd aussah. Ein optisch wie akustisch wendiger Tebaldo war Maria Vasilevskaya.

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Optisch zur Unscheinbarkeit á la brillenbewehrter Ideologe verurteilt, konnte Gihoon Kim als Rodrigo, nachdem er nicht mehr vom Carlo des Tenors Jonathan Tetelman in ein Dauerforte gezwungen wurde, seine immensen Qualitäten, einen Bariton von in allen Registern gleich schöner Farbe, von Ebenmaß, zu einer reichen Agogik fähig und auch im Piano hochpräsent so recht entfalten. Da hatte sein Tenorkollege, zu Beginn noch sich zerquält am Boden windend, bereits alle bis zur psychischen Labilität reichenden darstellerischen wie vokalen Nuancen aufgegeben und tobte wie ein Ernani oder Foresto über die Bühne, eine präsentable Mittellage, aber harsche, von Italianità freie Höhe präsentierend. Nicht ganz das vokale Niveau aus vergangenen Vorstellungen halten konnte der Filippo von Alex Esposito, dem stellenweise der lange Atem für eine großzügige Phrasierung fehlte und der auch optisch neben dem Riesen von Gran Inquisitore recht verloren wirkte. Aber allemal ergreifend gesungen war sein Ella giamai m’amò. Patrick Guetti verlieh diesem auch vokal die lebensfeindliche Fahl- und Hohlheit. Einen angenehmen Tenor setzte Kangyoon Shine Lee für Lerma und Araldo ein, Gerard Farreras strafte die Annahme Lügen, für den Mönch setzten die Häuser immer ein in Ehren ergrautes Ensemblemitglied ein.

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Als hätten Chor und Orchester gefühlt, dass sie einer Sternstunde im Opernalltag beiwohnten, setzten sie sich so vehement wie kultiviert, so fein differenzierend wie generös ausladend für das Werk ein, nach dessen letztem Ton das Publikum in anhaltenden dankbaren Jubel ausbrach. Den Dirigenten Sir Donald Runnicles hatte es auch schon nach der Pause begeistert empfangen.

So glücklich und in dem Glauben daran, dass Musik Wunder bewirken kann, wie an diesem Abend geschehen, möchte man das Opernhaus öfter verlassen.

Ingrid Wanja, 29. Mai 2025


Don Carlo
Giuseppe Verdi

Deutsche Oper Berlin

33. Aufführung am 29. Mai 2025 nach der Premiere am 23. Oktober 2011

Musikalische Leitung Sir Donald Runnicles
Regie, Bühne, Licht Marco Arturo Marelli
Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin