Weimar: „Die Passagierin“, Mieczysław Weinberg

Ich werde nicht müde, mich für die Oper Die Passagierin von Mieczysław Weinberg zu begeistern. Dreimal habe ich sie schon gehört, die Partitur studiert, und jedes Mal verstand ich die Schönheit und Größe dieser Musik besser. Ein in Form und Stil meisterhaft vollendetes Werk und dazu vom Thema her ein höchst aktuelles. Die Musik der Oper erschüttert in ihrer Dramatik. Sie ist prägnant und bildhaft, in ihr gibt es keine einzige ‚leere‘, gleichgültige Note. Diese in so hohem Maße enthusiastischen Worte über Weinbergs Passagierin, für die Alexander Medwedjew das Textbuch verfasste und die als die beste und bedeutendste Oper der Jetztzeit gelten kann, stammen von keinem Geringeren als Dmitry Schostakowitsch. Sie sind in dem bei Peer-Music erschienenen Klavierauszug der Passagierin abgedruckt. Diesem Postulat von Schostakowitsch, dem Freund und großen Mentor Weinbergs, ist voll und ganz zuzustimmen. Bei der Passagierin handelt es sich in der Tat um etwas ganz Besonderes, um ein Werk von erlesenster Güte, ungemeiner Intensität und immenser Eindringlichkeit. Ihr geistiger und musikalischer Gehalt ist enorm und die Botschaft von zeitloser Gültigkeit. Gleichfalls stark außergewöhnlich ist die Wirkung, die die Passagierin auf das Publikum hat. Diese Oper verlässt man anders als sonstige Werke des Musiktheaters. Man ist ungemein ergriffen, berührt und sogar beklommen. Die Passagierin erschließt sich dem Auditorium auf einer unterschwelligen, gefühlsmäßigen Basis, die es zunächst kaum spürt, die es dann aber umso stärker in ihren Bann zieht.

© Candy Welz

So war es auch an diesem äußerst bemerkenswerten Abend. Die Premiere von Weinbergs Passagierin am Deutschen Nationaltheater Weimar geriet für alle Beteiligten zu einem immensen Erfolg und wird sicher einmal in die Annalen des Deutschen Nationaltheaters Weimar eingehen. Nach dem ersten Akt dauerte es eine kleine Weile, bis der Applaus in Gang kam, so ergriffen waren die Zuschauer von dem Gesehenen. Dann aber brodelte es richtig los. Und beim Schlussapplaus konnte sich das Publikum kaum halten vor begeistertem Applaudieren. Zahlreiche Bravorufe waren zu vernehmen, auch für die Regie. Und das zu Recht.

Der jüdisch-polnische Komponist Weinberg, der bereits in jungen Jahren vor der in sein Heimatland vorrückenden Armee der Nationalsozialisten in die UdSSR fliehen musste und seine restliche Lebenszeit dort im Exil verbrachte, greift in seiner Passagierin, die in der UdSSR aus ideologischen Gründen lange Zeit nicht zur Aufführung gebracht werden durfte – das hat sich erst vor einigen Jahren geändert -, das finsterste Kapitel der deutschen Geschichte auf: den Holocaust und die Gräuel in den Konzentrationslagern. Der Oper zugrunde liegt der gleichnamige Roman – im Original: Pasazerka – der polnischen Auschwitzüberlebenden Zofia Posmysz (1923 – 2022), in dem diese ihre Erlebnisse in Auschwitz mit einer ungeheuren Radikalität schildert und dabei neben der Hauptproblematik von Schuld und Sühne auch die Verdrängungsmentalität der Nachkriegszeit eindringlich an den Pranger stellt. Weinberg, der seine ganze Familie in der Shoa verlor, und Medwedjew haben die Grundstruktur des Buches in ihrem Werk beibehalten und nur wenige Änderungen vorgenommen, um einzelne Handlungsstränge dem Opernsujet anzupassen.

© Candy Welz

Geschildert wird die Geschichte der ehemaligen KZ-Aufseherin Lisa, die Ende der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf einer Schiffsreise nach Brasilien, wo ihr Ehemann Walter eine neue Stelle als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland antreten soll, in einer mitreisenden Passagierin einen einstigen Auschwitz-Häftling mit Namen Marta zu erkennen glaubt, die sie längst tot glaubt. Diese Begegnung ruft in ihr Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager wach. Ihre verdrängte Vergangenheit steigt zunehmend wieder an die Oberfläche. Sie sieht sich in Auschwitz in ihrer alten Funktion als junge KZ-Wärterin. Ihr gegenüber steht Marta, zu der sie eine ganz persönliche Beziehung aufbaut und der sie sogar ein Treffen mit ihrem ebenfalls in Auschwitz gefangenen Verlobten Tadeusz – dieser ist in der Oper im Gegensatz zu Frau Posmysz‘  Roman nicht bildender Künstler, sondern Geiger – ermöglicht, die sie dann letzten Endes aber dennoch in den Todesblock schickt. Wie Marta letztlich mit dem Leben davonkam, ist ein großes Geheimnis, das nicht gelüftet wird. Unter der übermächtigen Last ihres schlechten Gewissens gesteht Lisa ihrem darob entsetzten Mann schließlich alles, wobei auch die Stimmen der Vergangenheit eine ausführliche Rückschau einfordern: Jetzt mögen andere sprechen! Die Hölle von Auschwitz wird für Lisa zum Inferno ihrer Erinnerungen. Im Folgenden spielen sich die einzelnen Szenen abwechselnd auf dem Ozeandampfer und in Auschwitz ab. Es ist eine erschütternde Geschichte, deren Zeuge die Besucher hier werden. Weinbergs Passagierin stellt einen stark unter die Haut gehenden Kontrapunkt gegen das Vergessen dar, ein flammendes Plädoyer gegen jede Art des Verdrängens mit den Mitteln des Musiktheaters. Das ging auch bei der hier zu besprechenden Weimarer Premiere alles extrem unter die Haut. Es ist unmöglich, von der Passagierin nicht gefesselt zu sein.

© Candy Welz

Das Inszenierungsteam um Jossi Wieler und Sergio Morabito (Regie) sowie Anna Viebrock (Bühnenbild und Kostüme) hat wieder einmal ausgezeichnete Arbeit geleistet. Was sie auf die Bühne brachten, gehört mit zum Besten, was man von ihnen bisher erleben konnte. Angesichts einiger merkwürdiger und unlogischer Widersprüchlichkeiten in den von den Opernhäusern, die die Passagierin bisher spielten, verwendeten sprachlichen Mischfassungen (Fassung der Bregenzer Uraufführung, Karlsruher Fassung) hat das schon oft bewährte Regie-Duo ganz auf sie verzichtet. Sergio Morabito, der ebenfalls für die Dramaturgie verantwortlich war, und Susanne Felicitas Wolf haben eine neue deutsche Übersetzung der Passagierin angefertigt, die an diesem Ausnahmeabend zum ersten Mal zu hören war und sich trefflich bewährt hat.

Herkömmlichen Sehgewohnheiten erteilen  Wieler, Morabito und Viehbrock eine klare Absage und bringen eine ganz eigene Theaterrealität auf die Bühne des Weimarer Theaters. Das Grauen im Konzentrationslager bleibt gänzlich ausgespart. Weder von dem Ozeandampfer noch von Auschwitz ist in ihrer Produktion etwas zu sehen. Die verschiedenen Handlungsträger werden auch von ihren Kostümen her nicht in Schiffsreisende, SS-Leute und KZ-Häftlinge aufgeteilt. Sie tragen alle dieselbe gutbürgerliche Alltagskleidung der Zeit um 1960. Ähnlich wie in einem Prozessverfahren nähert sich Weinbergs Oper dem, was in Auschwitz geschah, über die Erinnerungen der Täter und Opfer (vgl. Programmheft S. 19). Basierend auf dieser Überlegung deutet das Regieteam die dramatische Handlung in sehr eindringlicher Weise als Totengericht. Es siedelt das Ganze in einem dem Bürgerhaus Gallus, in dem Anfang der 1960er Jahre der Frankfurter Auschwitz-Prozess stattfand, nachempfundenen Einheitsraum an. Im Hintergrund erblickt man in der Höhe eine an den Dampfer gemahnende Reling – ein untrügliches Zeichen dafür, dass einer der beiden Handlungsorte ein Schiff ist. Im Vordergrund verläuft ein Steg quer über die Bühne. Eine Reihe von Stufen führen ins Off. Über den ganzen Bühnenraum verteilt liegen scheinbar leblose, weibliche und männliche Körper regungslos herum. Im Lauf der Aufführung erheben sie sich immer wieder und nehmen eine Funktion in dem gegen Lisa gerichteten Gerichtsverfahren ein. Die in Auschwitz inhaftierten Frauen treten gleichsam in den Zeugenstand, um beredtes Zeugnis über die Gräueltaten in Auschwitz und Lisas Beteiligung daran abzulegen. Auffällig ist, dass der Zeugenstuhl stark demjenigen ähnelt, auf dem Ilse Koch, die Bestie von Buchenwald, im dem 1947 stattgefundenen Buchenwald-Prozess vernommen wurde. Diese Identifikation von Lisa mit Ilse Koch macht durchaus Sinn, da auch sie sich im Verlauf der Inszenierung als regelrechte Bestie entpuppt. Dabei stellen die SS-Männer die Verteidiger Lisas dar. Das Gericht ist dagegen den ganzen Abend über nicht zu sehen. Der Platz des Vorsitzenden Richters bleibt fast die ganze Zeit über leer. Lediglich im zweiten Akt nimmt Walter einmal auf ihm Platz und geriert sich derart zum Richter über seine Frau, die ängstlich vor ihm sitzt. Welches Urteil er fällen wird, bleibt offen. Ein hartes wird es jedenfalls nicht sein.

Lisa stellt sich die ganze Zeit über als unschuldig dar, obwohl sie in hohem Maße schuldig ist. Einer der besten Regieeinfälle Wielers und Morabitos besteht in der Aufzeigung einer heftigen lesbischen Liebe, die Lisa zu Marta hegt. Einmal küsst die Aufseherin ihr Opfer auf den Mund und fährt ihr mit den Händen über die Brüste. Hier offenbart sich sehr krass Lisas wahre Mentalität. Ihr ist in keinster Weise daran gelegen, Marta und Tadeusz zusammenzubringen. Sie weiß genau, dass Tadeusz dem Tode geweiht ist. Sie kann warten, bis ihre Zeit gekommen ist und legt es im Folgenden darauf an, das Objekt ihrer Begierde, Marta, durch geheuchelte Freundlichkeit nach Tadeusz‘ Tod nur um so sicherer ins Bett zu bekommen. Wenn Tadeusz im Konzert-Bild des zweiten Aktes statt des ihm befohlenen Lieblingswalzers des Kommandanten Bachs Chaconne spielt, tut er das auf einem Theater auf dem Theater. Hier lässt Bertolt Brecht schön grüßen. Ungemein erzürnt über diesen Ungehorsam des Geigers stürmt die nun umgezogene und als junges Mädchen aufgemachte Lisa Tadeusz‘ kleine Bühne, entreißt ihm die Geige und zertrümmert diese. Nun endlich zeigt sie ihr wahres Gesicht. Der Vorhang des Theaters auf dem Theater schließt sich. Aus dem Berg von bewegungslosen Körpern auf dem Boden erhebt sich Marta und gedenkt mit Wehmut an Tadeusz und ihre anderen in Auschwitz ermordeten Leidensgenossinnen. Das war alles ungemein überzeugend und von Wieler und Morabito mit einer ausgefeilten und sehr stringenten Personenregie auch ausgesprochen spannend und abwechslungsreich auf die Bühne gebracht. Bravo!

© Candy Welz

Von immenser Spannung präsentiert sich die Musik. Weinbergs Klangsprache ähnelt sehr derjenigen von Schostakowitsch. Die Partitur beruht auf einer erweiterten Tonalität und weist obendrein Elemente der Dodekaphonie auf. Gleichzeitig ist der Klangteppich aber ausgesprochen schön und oftmals auch recht melodiös. Mit Bezug darauf sei nur auf die Lieder der Auschwitz-Insassinnen, den Choral und das wunderbare Liebesduett zwischen Marta und Tadeusz im zweiten Akt hingewiesen. Und für die von dem Komponisten hier rege ins Feld geführte Leitmotivtechnik hat augenscheinlich Richard Wagner Pate gestanden. Diese wirkt indes nicht auf direktem Wege, sondern mehr unterschwellig auf den Zuhörer ein. Nichtsdestotrotz bleiben zahlreiche Themen nachhaltig in Erinnerung. Erwähnenswert sind dabei in erster Linie die musikalischen Zitate aus der Musikgeschichte. Beispielhaft seien hier nur Bachs Chaconne aus der Partita Nr. 2 d-Moll für Solo-Violine, das Schicksals-Motiv aus Beethovens Fünfter Symphonie in c-Moll sowie das Prügel-Motiv aus Wagners Meistersingern genannt. Der Eindruck ist ungemein mächtig.

Dirigent Roland Kluttig wies der bestens disponierten Staatskapelle Weimar in bedächtigen, weder zu schnellen noch zu langsamen Tempi den Weg durch Weinbergs anspruchsvolle Partitur, wobei er deren Strukturen gekonnt herausarbeitete. Die mannigfaltigen Leitmotive wurden ebenfalls aufs Beste beleuchtet und der Klangteppich mit zahlreichen Emotionen und vielfältigen Coleurs ausgestattet. Daraus resultierte ein sehr vielschichtiges, differenziertes und ausgesprochen spannungsgeladenes Dirigat, dass Kluttig  alle Ehre machte.

Auf hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Mit einem Maximum an darstellerischer Intensität stürzte sich Sarah Mehnert in die Rolle der Lisa, der sie mit ihrem bestens fokussierten und sehr tiefgründigen Mezzosopran stimmlich ebenfalls voll und ganz entsprach. In Nichts nach stand ihr Emma Moore, die einen in gleicher Weise trefflich fundierten und ebenmäßig geführten Sopran in die Partie der Marta einbrachte, die sie auch ansprechend spielte. Sehr gut gefiel der noch junge Taejun Sun, der saft- und kraftvoll sowie mit einer famosen italienischen Technik den Walter sang. Ein vorbildlicher italienischer Gesangsstil war auch bei Ilya Silchuks sehr sonor und ausdrucksstark klingendem Tadeusz zu konstatieren. Feines lyrisches Sopran-Material und stählerne Spitzentöne bei ihrem Verlangen nach Rache zeichneten die Katja von Heike Porstein aus. Allesamt tadellose, schön im Körper verankerte Stimmen wiesen Sayaka Shigeshima (Krystina), Katerina Kurzweil (Vlasta), Anne Weinkauf (Hannah), Tatjana Winn (Bronka) und Ylva Stenberg (Yvette) auf. Oliver Luhn (1. SS-Mann, Älterer Passagier) und Alexander Günther (3. SS-Mann) hörten sich besser an als der maskig intonierende Andreas Koch (2. SS-Mann). Leider mehr auf Keifen als auf angenehmes Singen verlegte sich Silvia Schneider als Alte Frau. In den Sprechrollen der Oberaufseherin und des Stewards (Mr. Bradley) waren gefällig Elke Sobe und Elias Nuriel Kohl zu erleben. Der von Jens Petereit gewissenhaft einstudierte Opernchor des DNT Weimar machte seine Sache gut.

Fazit: Ein in jeder Beziehung ungemein spannender, eindringlicher und geradezu preisverdächtiger Abend, der auf grandiose Art und Weise von den hohen Fähigkeiten des Nationaltheaters Weimar zeugte. Diese bemerkenswerte Produktion, die sich hoffentlich lange auf dem Spielplan halten wird, hätte sich das Postulat Aufführung des Jahres mehr als verdient! Ihr Besuch wird dringendst empfohlen! Die lange Fahrt nach Weimar hat sich mehr als gelohnt! Schön wäre es, wenn es von dieser Aufführung irgendwann eine DVD geben würde.

Ludwig Steinbach, 7. April 2025


Die Passagierin
Mieczysław Weinberg

Nationaltheater Weimar

Premiere und besuchte Aufführung: 5. April 2025

Inszenierung: Jossi Wieler, Sergio Morabito
Musikalische Leitung: Roland Kluttig
Staatskapelle Weimar