Die „Ewigkeitsfragen“ sind es, „aus denen die Symphonie entstanden ist, die in ihr ihre Antwort finden sollten“ – das sagte Bruno Walter über eines der größten Werke, das je von Menschhand erschaffen wurde, eben über Gustav Mahlers 8. Symphonie. Daß deren Beiname, „Symphonie der Tausend“ der Marketingstrategie Emil Gutmanns entstammte, ist hinlänglich diskutiert worden und es ist auch gar nicht nötig, daß rund 1000 Mitwirkende diese erhabene Schöpfung zum Leuchten bringen. Mögen es bei der Münchner Uraufführung im Jahre 1910 tatsächlich 858 Chormitglieder und ein 171 Köpfe starkes Orchester gewesen sein, so genügte in Hamburg ein rund 200 Stimmen starker Chor und das NDR Elbphilharmonie Orchester
Der Große Saal war angeblich ausverkauft, aber es waren doch einige leere Plätze zu sehen und man hätte den umsonst Wartenden am Schalter der Abendkasse gewünscht, doch noch an diesem gewaltigen Ereignis teilhaben zu können. Abgesehen von einem medizinischen Notfall zwischen dem ersten und dem zweiten Teil und einigen Chorknaben, die zwischendrin nach draußen mußten, waren es diesmal nur sehr wenige im Publikum, die nicht bis zum Schluß blieben. Zwischen dem Hymnus- und dem Faust-Teil wurde nicht geklatscht und das war dann tatsächlich der Moment, an dem man sich die ersten Tränen der Ergriffenheit abwischen konnte. Um den Rest der Besprechung nicht durch Ärger zu beschmutzen, sei hier nur bemerkt, daß in die heilige Stille nach Verklingen des letzten Tons ein Daddelgerät klingelte. Hätte der Rezensent direkt daneben gesessen, hätte er sich wenigstens wegen Sachbeschädigung hinterher auf der Polizeiwache verantworten müssen. Solche Leute bringen es auch fertig, während des „Vaterunser“ im Weihnachtsgottesdienst den Pizza-Bringdienst anzurufen. Aber weg von den Banalitäten!
Das Chorgebäude aus NDR Vokalensemble, Rundfunkchor Berlin, Prager Philharmonischem Chor und Knabenchor Hannover sang mit ebensoviel wuchtiger Stärke wie Synchronizität – gerade die Damen setzten immer wieder mit extremen Höhen funkelnde Akzente. Tutti-Passagen gerieten ebenso makellos wie die Partien von Knabenchor und Herrenstimmen.
Durch die Bank überzeugend waren Solistinnen und Solisten, die sich allesamt ohne jede Eitelkeit in den Gesamtdienst stellten. Die Sopranistinnen Carolyn Sampson, Camilla Tilling und Miriam Kutrowatz sangen zwar durchweg brillant, aber gerade die Mezzosopranistinnen Stefanie Irányi und Jennifer Johnston überzeugten durch warmen Wohlklang. Keine der Damen mußte ein übermäßiges Vibrato bemühen und jede setzte sich souverän gegen Orchester und Chor durch. Das Terzett im zweiten Teil war von erstklassiger Exaktheit und Finesse.
Andreas Schagers Tenor strahlte, ohne zu dominant zu sein, über den Klangkörper hinweg. Der Baßbariton Adam Plachetka gab mit Wärme und vor allem hervorragender Artikulation die Worte wieder und Nathan Berg, ebenfalls Baß, hatte nur in sehr wenigen Momenten Mühe, in den Tiefen das Orchester zu übertönen; die Höhen meisterte er spielend.
Semyon Bychkov hatte mit größter Selbstverständlichkeit alle Ebenen dieses gewaltigen Apparates im Griff und das NDR Elbphilharmonie Orchester mit erweiterter Instrumentierung ließ dieses musikgewordene Licht glänzen, mit all seinen Klangblüten, die erhaben bis ins Weltall strahlen. Es sind ja bei aller dynamischer Gewaltigkeit die zarten Feinheiten, die dieser Symphonie eine unüberbietbare Vielschichtigkeit geben, beispielsweise wenn Mahler mit kaum zu beschreibender Schönheit mittels Harfen und hohen Streichern die Liebe malt. Stefan Wagners erste Violine zauberte wunderschöne Linien in das große Gemälde, das den Vergleich mit Michelangelos Ausmalung der Sixtinischen Kapelle nicht zu scheuen braucht.
Die „Achte“ ist ein musikalischer Gottesbeweis und wo sich diese Musik erhebt, hat nichts Beiläufiges, Mittelmäßiges, Bösartiges oder Banales Platz. Daher muß sie in größtmöglicher Perfektion gelingen, was ohne jeden Zweifel gerade Chören und Orchester unter seinem leidenschaftlichen Dirigenten attestiert werden darf. Das Spiel mit dem Raum bietet sich in der „Elphi“ an und die Blechbläsergruppe ebenso wie das Sopransolo im zweiten Teil von den oberen Rängen herab ihre Klangkometen in den Saal schicken zu lassen, war ein wunderbarer Einfall.
Mit seiner Zweiten Symphonie hat Mahler die Auferstehung gefeiert, in seiner Vierten hat er in den Himmel blicken lassen. Die Achte aber erst entwirft einen leuchtenden Abglanz des Universums und das wird wohl auf alle Zeiten in dieser Größe unüberbietbar bleiben. Man kann vor diesem Werk nur die Knie beugen, in tiefster Dankbarkeit und demütiger Ehrfurcht.
Das Publikum verstand dies durchweg und dankte allen Mitwirkenden mit langanhaltendem, tosendem Beifall.
Wer das Glück hatte, einem solchen Ereignis beiwohnen zu dürfen und das auch zu schätzen weiß, dessen Leben ist in diesen 80 Minuten reicher geworden.
Andreas Ströbl, 16. April 2024
Sinfonie Nr. 8
Gustav Mahler
Elbphilharmonie Hamburg
14. April 2024
Musikalische Leitung: Semyon Bychkov
NDR Elbphilharmonie Orchester
NDR Vokalensemble
Rundfunkchor Berlin
Prager Philharmonischer Chor
Knabenchor Hannover