Als Musikjournalist möchte man den Begriff „Kritiker“ am liebsten zur Bezeichnung des eigenen Standes meiden, wenn man die Auslassungen von Eduard Hanslick liest und über die unfassbare Kenntnislosigkeit dieses ehemaligen Kritikerpapstes nur den Kopf schütteln kann. Als Musik, „die man stinken hört“ empfand er eines der großartigsten Werke der Literatur für Violine und Orchester schlechthin, nämlich Tschaikowskys Opus 35, das auch ganz gewiss zu den fröhlichsten, lebensbejahendsten Stücken des Komponisten zählt.
Bei entsprechender virtuoser Umsetzung durch einen Weltstar wie Joshua Bell am Abend des 3. November im Großen Saal der Hamburger „Elphi“ mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter Leitung seines Chefdirigenten Alan Gilbert lässt sich ein für Tschaikowsky eher seltener Frohsinn in Vollendung erleben. Und Herrn Hanslick möchte man einfach nur in die Elbe schubsen.
Der unbeschwerte Optimismus bricht sich gleich zu Beginn des ersten Satzes Bahn und besticht durch seine Melodik; von einem Thema zum nächsten tänzeln Violine und Orchester in lebhafter Interaktion. Bei aller Entschiedenheit und Dynamik ist Bells Strich geradezu von karamelliger Geschmeidigkeit, liebevoll und mit Hingabe widmet er sich jedem Ton. Gilbert nimmt immer wieder Blickkontakt mit ihm auf; die Freude an dieser wundervollen Musik ist vor allem dem Lächeln des Dirigenten anzusehen, während sich der Geiger hochkonzentriert seinem Spiel widmet, um bei Einsatzpausen den Blick nach oben zu richten. Was wie eine stolze Geste wirkt, ist tatsächlich ein sich erhebendes Ausatmen, weil Bell wirklich alles gibt.
Wie eine Weide im Wind wiegt er seinen Körper hin und her, ist aber, ebenso wie der Baum, festverwurzelt, der die großen Bewegungen der Natur aufnimmt, aber doch im Innersten ganz in sich ruht. Anmutig und grazil sind seine Höhenläufe und bei ihm klingt selbst das Flageolett sahnig.
Gilbert gestaltet sein Dirigat vielseitig und bewegt, aber seine Einsätze sind bei aller sichtbarer Freude an der Formung stets exakt und, wenn erforderlich, zackig. Die musikalische Energie, die sichtbar durch den Leiter und den Solisten strömt, überträgt sich von der ersten Note an und dann durchgehend auf das brillant spielende Orchester. Die Trompeten glänzen golden wie leuchtende Ornamente an einem weiß strahlenden Marmorgebäude, das der Klangkörper errichtet.
Die enorme Körperspannung ist bei Bell spürbar, manchmal biegt er sich wie ein Panther, um dann wieder in die Aufrechte zu gehen, so als wolle er den Klangstrahlen, die er erzeugt, nachsehen. Das Solo kostet er aus, indem er jeden einzelnen Ton wahrnimmt und ihm sowie den einzelnen Themen den Strich gibt, den die Klänge verdienen, um blühen zu können. Dafür gibt es nach diesem Satz „Bravo!“, ja „Bravissimo!“-Rufe und man mag es dem Publikum nicht verdenken, daß hier die Begeisterung mit den Applaudierenden durchgeht.
Elegisch und im besten Sinne schmachtend gibt sich Bell dem Folgesatz hin, in dem sich die Mitwirkenden etwas von der Hochleistung des Vorangegangenen erholen können. Seidig klingt die Stradivari von 1713 und wie im Moiré-Effekt bei glänzendem Stoff changieren die Schattierungen jeweils in eigener Ausgestaltung, bleiben aber immer ineinanderfließende Abstufungen des gleichen feinen Materials.
Im unmittelbar anschließenden Finalsatz schraubt sich Bell mit sichtbar höchster Konzentration in die Höhe und nun kann man die Musik tatsächlich duften hören. Hätte Hanslick synästhetisch aufmerksam genug hingehört, dann hätte er in dem folkloristisch geprägten Satz die Wiesen, das frische Heu und den Waldbodenduft in sich aufnehmen können. Das darf das Publikum bei Bells Darbietung, in der er Tschaikowskys Verarbeitung der volksliedhaften Aspekte zu einem Werk der Hochkultur tatsächlich erlebbar macht. Das ist die Adelung des Einfachen, bei aller Wertschätzung des naturnahen Ursprungs.
Trotz aller Nähe zum Tänzerischen verschleifen Bell und die Mitwirkenden nichts, alles bleibt klar differenziert und dabei entsteht eine Fröhlichkeit, die man dem vom Leben geplagten Tschaikowsky so sehr gewünscht hätte. Fast wirkt es, als wolle der zuweilen bubenhaft-schelmisch blickende Violinist auf einem Dorftisch tanzen wollen; er läßt sein Instrument singen, als hätte „cantabile“ über dem ganzen Werk gestanden. Zum Finale hin setzt es immer noch eins und noch eins, die Musik steigert sich in ihrer Lebenslust bis zum Ende hin, was sofort stürmischen Beifall erzwingt. Als Zugabe spielt Bell gemeinsam mit der Konzertmeisterin Natalie Chee ein melancholisches Prélude von Schostakowitsch, die sanfte Weise bildet einen wunderbaren Ausklang dieses Konzertteils.
Den zweiten füllt Gustav Mahlers 5. Symphonie, ein Werk größter denkbarer Gegensätze, was selbst bei Mahler einiges heißen mag. Er selbst hat die Symphonie dreigeteilt und die erste Abteilung bilden zwei Sätze tiefster Düsternis und fast grausamer Vehemenz. Der Trauermarsch nach dem charakteristischen einleitenden Trompetensignal, das Claude Couloumy zum schwarzglänzenden Leuchten bringt, ist voll finsteren Abschiedsschmerzes; hier mischt sich ein gravitätischer Marsch-Duktus mit Ausbrüchen, in denen sich das Bewußtsein des Verlustes jäh Gehör verschafft. Harte Cello-Striche von Andreas Grünkorn machen die ganze Unerbittlichkeit der dunklen Szenerie mit hochsensiblem Verständnis der Partitur fühlbar. Claudia Strenkerts Horn ergänzt die tiefe Wehmut mit vollem, klagendem Klang. Der Streicherton ist, anders als Mahler es vorschreibt, „so vehement als möglich“, oft zart und buttrig, ja tatsächlich schön, was aber angesichts der existentiellen Härte und Bitterkeit, die in diesem Satz beschrieben wird, etwas am geforderten Grundton vorbeigeht. Der beschließende Streicherton gerät sanft und konterkariert fast Mahlers Bekenntnis zur drohenden Düsternis und der tiefen Trauer, denn dieser Ton muss hart in Ohr und Seele schneiden.
Auch der zweite, „stürmisch bewegte“ Satz mit all seiner Unruhe, seinem verzweifelten Suchen und den Dissonanzen, müßte den Zuhörenden eigentlich mit aller Unbarmherzigkeit das Gefühl vermitteln, in einem dunklen Raum von einer Ecke in die andere geschleudert zu werden, aber Gilbert entscheidet sich für eine Aufweichung dieser Extremsituation. Das mag für viele angenehmer zu hören sein, aber so mancher Kenner des Werks und seines Hintergrunds vermissen hier die ehrliche Härte. Vielleicht deswegen klatscht das Publikum nun und zerstört so die Spannung zwischen dieser ersten Abteilung und dem in ganz andere Bereiche blickenden Scherzo. Ja, auch das ist bei Mahler kein Scherz, aber es bringt doch in seiner Heterogenität überraschende Wendungen und tatsächlich Sonnenscheinflecken. Dass Gilbert auf den unsensiblen Applaus mit einem freundlichen Zwinkern reagiert, mag nett gemeint sein, setzt aber ein falsches Zeichen. Ein einfaches Heben der linken Hand hätte signalisiert, dass hier bitte abzuwarten ist. Die Symphonie ist ja noch nicht zu Ende und besteht nicht aus Revuenummern.
Die Fugato-Stellen, das Zitat aus dem ersten Satz von Brahms´ zweiter Symphonie, die hinreißenden Pizzikati, die ganzen Wechselbäder, die dieser Mittelsatz zu bieten hat, formen Dirigent und Orchester allerdings bravourös. Man möchte das Wort „spaßig“ nicht mit Mahler assoziieren, aber alle Mitwirkenden haben tatsächlich sichtbar Spaß am Musizieren, was dieser und vor allem der Finalsatz auch unbedingt anbieten.
Und dann das große Adagietto, das man sich ja kaum ohne den glitzernden Sonnenschein auf den Wellen der Lagune von Venedig vorstellen kann! Die Hamburger breiten all den liebevollen Zauber aus, der in dieser Musik lebt. Um Liebe geht es hier tatsächlich, sicher auch im Rest der Symphonie, mit all der Angreifbarkeit und den Grenzsituationen, in die eine liebende Seele geraten mag. Aber dieser Satz ist doch eine einzigartige Offenbarung tiefsten und schönsten menschlichen Gefühls. Gilberts Reduktion der Glissandi ist eine sehr gute Idee, um das Stück nicht kitschig werden zu lassen.
Der Finalsatz lässt alles Düstere hinter sich und baut – Stockwerk für Stockwerk – einen glänzenden Turm aus edlem Gestein auf, hält immer wieder inne, um das Werk zu reflektieren und dann weiter in die Höhe zu wachsen, fast tänzerisch-beschwingt in der Vorwärtsbewegung. Gilbert wippt hin und her, unterstreicht die Taktführung mit den Schultern, wirft Einsätze mit Entschiedenheit in den Klangkörper, breitet die Arme aus, um die Tutti zu steigern und so führen alle Mitwirkenden mit sicht- und hörbarer Begeisterung dieses Werk zu seinem majestätischen Ende.
Großer Applaus für einen phantastischen Abend, in dem Mahler mal schöner klingt als vielleicht gedacht und geplant.
Andreas Ströbl, 4. November 2023
Hamburg
Elbphilharmonie
3. November 2023
Peter Iljitsch Tschaikowsky: Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35
Gustav Mahler: Symphonie Nr. 5 cis-Moll
Violine: Joshua Bell
Musikalische Leitung: Alan Gilbert
NDR Elbphilharmonie Orchester