Kontrapunkt: „Erl oder nicht mehr Erl, das wird hier die Frage“

Es gibt Ereignisse, die klingen in einem ewig nach, die vergißt man nie, an die erinnert man sich immer wieder – einfach, weil sie so wunderbar waren. Solch ein Ereignis war Wagners Ring des Nibelungen in der großartigen Regie von Brigitte Fassbaender im Passionsspielhaus bei den Tiroler Festspielen Erl 2024. Geprägt von Liebe zu Werk und Musik, tiefer Kenntnis der Geschichte und ihrer Zusammenhänge war alles ganz nah an der Handlung, ohne Bärenfell und Flügelhelm, aber mit Regenbogen, Drachen, Gold und Feuer. Dennoch modern, voller Witz und Ironie, beleidigte nichts das Auge, war nichts peinlich oder unangebracht und frei von jeglichem überflüssigen technischen Firlefanz, der für die Handlung ohnehin nichts als Ablenkung bringt. Raum wurde so geschaffen für die Musik und ihre Sängerdarsteller, und derer gab es viele, allen voran Simon Bailey als wohl elegantester, sensibel-kraftvoller, „göttlicher“ Wotan, dazu der lässigste und bei aller Verschlagenheit liebenswerte Loge von Ian Koziara sowie ein in jeder Hinsicht an- und vielversprechender Siegmund von Marco Jentzsch, um nur wenige zu nennen. Hier gab es herausragende, homogene Ensembleleistungen, in denen alle Star sind, einzeln und zusammen. Das bietet Erl, das ist Erl mit seinen eingeschränkten technischen Möglichkeiten und somit der Konzentration auf das Wesentliche. Das gilt nicht nur für den Ring, sondern auch z. B. für den umjubelten Mazeppa.

© Regina Ströbl

Wie schön, das erlebt zu haben und wie schade für viele Opernfreunde, daß sie, sollten sie für die beiden zyklischen Aufführungen im Juli keine Karten erworben haben, nicht mehr in den Genuß dieser Aufführung kommen. Nach Verklingen des letzten Tons der zweiten Götterdämmerung war nach nur zwei Gesamtaufführungen Schluß. Neue Besen kehren gründlich…

Nach dem unrühmlichen Abgang des Festivalgründers 2018 hatte der Intendant der Frankfurter Oper Bernd Loebe die Leitung der Festspiele übernommen und zog diese mit einer teilweise recht ausgefallenen Programmzusammenstellung regelrecht aus dem Dreck. Nicht von ungefähr ist die Frankfurter Oper unter Loebes Leitung mehrfach zum Opernhaus des Jahres gewählt worden, der Mann versteht zudem auch etwas von Stimmen! Neben den beinahe obligatorischen Wagneropern standen nun selten zu erlebende Stücke wie Humperdincks Königskinder, Rossinis Bianca e Falliero oder Braunfels‘ Die Vögel auf dem Spielplan, was Erl zusammen mit den Winterproduktionen und dem jährlichen „Erntedank“ endgültig eine besondere Stellung in der bunten Welt der vielen Festspiele sicherte. Wie dankbar sollte, ja muß man diesem Mann also sein. Umso fassungsloser macht daher das Ende dieser glanzvollen Zeit. Anstatt einen neuen Vertrag zu bekommen, sollte sich Bernd Loebe an der Ausschreibung der Intendantenstelle mit Lebenslauf und Bewerbungsgespräch beteiligen. Wie peinlich und geradezu beleidigend ist das denn und wie undankbar dazu? Frei nach Schiller: „Herr Loebe hat seine Arbeit getan, Herr Loebe kann gehen“. Aber wer fragt nach Verdiensten und künstlerischer Qualität dieses überaus kompetenten Intendanten, wenn man einen Jonas Kaufmann haben kann? Der verfügt zwar über keinerlei Leitungserfahrung, dafür aber über gaaanz viele tolle neue Ideen, wie auf der Pressekonferenz vom 26. April diesen Jahres verkündet wurde. Für den Rest gibt es ja Mitarbeiter, so u. a. einen Castingmanager – na, Gott sei Dank, jetzt wird alles toll und neu. Und dem Herrn Intendanten bleibt sicher genügend Zeit für eigene Auftritte und weitere CDs, wo ja seit mindestens zwei Monaten keine neue Silberscheibe erschienen ist. Vermutlich dürfen wir uns nun auf ein Medley der 157 schönsten Tiroler Lieder zum Einstand in den neuen Job freuen.

Wie gesagt, neue Besen kehren gut und gründlich. Aber ist das so? Zugegeben, Kaufmann übernimmt die Intendanz zum 1. September, viel Zeit für die Planung eines Programms auch für den Sommer 2025 gab es seit der Bekanntgabe seines Engagements im Juni 2023 also nicht. Erschwerend kommt hinzu, daß im Sommer kommenden Jahres auch wieder die Erler Passionsspiele im zugehörigen Haus stattfinden. Das Festival muß also in der Zeit komplett in das 2012 daneben harmonisch entgegengesetzt errichtete Festspielhaus ausweichen. Während die Winter- und Frühjahrsproduktionen jeweils in Inszenierungen aufgeführt werden, gilt das nur für zwei Stücke der Sommersaison, bei denen es sich um Kooperationsprojekte mit anderen Häusern handelt. Alles legitim, ebenso, daß zusätzlich drei Opern lediglich konzertant aufgeführt werden. Aber müssen es denn dann unbedingt die nun wirklich nahezu überall erklingenden Rigoletto, Troubadour und Traviata sein, diese langsam doch fade Suppe, gewürzt mit ein paar bekannten Namen? Warum nicht wieder etwas wagen, Unbekanntes, selten gespieltes oder unmöglich zu inszenierendes spielen? Wenn nicht unter diesen Umständen, wann denn dann? Und neu sind diese drei Verdi-Hits in Erl auch nicht, sieht man mal auf die vergangenen Spielpläne. Gerade diese hat es 2013 schon am Stück gegeben, ebenso Herzog Blaubarts Burg. Geht es denn nur noch um Kommerz? Es soll, laut Kaufmann, nicht nur internationales Publikum sondern auch das regionale gewonnen werden (war das bisher nicht anwesend?). Aber gelingt das nur mit solch populären Kassenschlagern, ist dem Publikum etwas Gewagteres oder einfach etwas anderes nicht zuzumuten? Unter knapp 6000 bekannten Opern wird doch wohl etwas zu finden sein.

Bekannte Namen wurden auch für die Regie der kommenden Spielzeiten genannt, gleichzeitig gab Jonas Kaufmann bekannt, er wolle die Proben möglichst intensiv begleiten, auch gegebenenfalls einlenken und seine eigene Vorstellung von Ästhetik einbringen. Eingeladene Regisseure wie Claus Guth oder Calixto Bieito freuen sich darauf sicher jetzt schon.

Die Pressekonferenz vermittelte den Eindruck, hier werde nun das Rad ganz neu erfunden und für absolut jeden Geschmack etwas angeboten, alte Musik und neue natürlich auch. Alles wird größer, schöner, vielfältiger. Nun, auch knapp 80 Auftragswerke mitsamt Uraufführung hat es seit der Gründung des Festivals schon gegeben. Salzburg ist zwei Stunden, München eine Stunde entfernt. Braucht es da ein drittes Festival mit einem solchen aufgeblähten, in großen Teilen austauschbarem Programm? Lohnt es sich wirklich, die seit Jahren in ihrem faden, mit wenig Überraschungen verfeinerten Saft schmorenden Salzburger Festspiele zu kopieren? Wäre es nicht viel sinnvoller, die Besonderheiten und einzigartigen Möglichkeiten der Spielstätte Erl in ihrem großartigen Panorama eingebettet mit einem fein abgestimmten, außergewöhnlichen Programm herauszustellen?

Spätestens ab der Saison 2025/26 wird sich Intendant Jonas Kaufmann mit seinem Team bewähren müssen. An einem kommerziellen Erfolg dürfte nicht zu zweifeln sein, seine (überwiegend weiblichen) Fans werden in der Hoffnung nach Erl pilgern, ihrem Idol nun auch außerhalb der Bühne hautnah begegnen zu können. Angesichts der in letzter Zeit zunehmend kritisch besprochenen Gesangsleistungen Kaufmanns, die an dieser Stelle nicht zur Debatte stehen, bietet sich hier eine Möglichkeit für ihn, seine Karriere nun als Festspielleiter fortzusetzen. Ob es nun klug ist, gleich mit einer Intendanz dieser Dimension anzufangen, wird sich zeigen. Aber jeder hat ja eine Chance verdient.

Regina Ströbl