Baden-Baden: „Die Frau ohne Schatten“, Richard Strauss

Richard Strauss‘ und Hugo von Hofmannsthals Opus Magnum ist ein sperriges Kunstprodukt und zugleich eines der faszinierendsten Werke der gesamten Opernliteratur geworden. Strauss wollte den „FroSch“, wie er die Oper liebevoll nannte, als letzte romantische Oper verstanden wissen, der sozialkonservative Feingeist von Hofmannsthal entwarf ein überaus komplexes Libretto, ein symbolistisches Märchen, reich an tiefsinnige Metaphern, dessen Kernaussage schon während der durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges verzögerten Fertigstellung durch die aktuellen gesellschaftlichen Umwälzungen obsolet geworden war. Denn Hofmannsthal preist darin die Mutterschaft als einzig gangbaren Weg der Frau zur vollkommenen Menschwerdung. Darin eingeschlossen ist eine Unterwerfung der Frau, eine Verneinung des Rechts auf ihren eigenen Körper, eine Herabminderung alternativer Lebensentwürfe. Der „Gebärstreik“ der Färberin muss genauso zugunsten der Mutterschaft überwunden werden, wie die rein auf das Sexuelle beschränkte Ehe des Kaiserpaares. Einen Schatten zu werfen (sprich Kinder zu kriegen) ist also das höchste Gebot des Gottes – hier Keikobad – genannt, aber natürlich ist der christliche Gott gemeint. Wenn die beiden Paare am Ende nach all den Prüfungen wieder vereint in strahlendem C-Dur-Freudengesang die Ungeborenen preisen und willkommen heißen, kann das aus heutiger Perspektive natürlich nicht eins zu eins übernommen werden, sonst wird es unerträglich. Die Regisseurin dieser begeistert akklamierten Produktion (die vereinzelten Buhs beim zweiten Vorhang des Inszenierungsteams gingen im Applaus schnell unter), Lydia Steier, hat einen klugen, spannenden und erhellenden, aber auch komplexen Weg gewählt, um die Story hinterfragend zu erzählen, ohne sie zu entstellen.

© Martin Sigmund

Sie bettet das Märchen ein in einen (Alb)Traum einer Insassin einer religiösen Besserungsanstalt für gefallene Mädchen. Diese junge Frau ist vermutlich minderjährig schwanger geworden, das Kind hat man ihr weggenommen. Im Verlauf des Traums werden ihre dadurch erlittenen seelischen Qualen offenbar. Zuerst allerdings träumt sie sich in eine heile Hollywood -Glamour-Welt, Kaiserin und Kaiser erscheinen wie Ginger Rogers und Fred Astaire auf der Showtreppe. Im Traum immer dabei ist die Mutter Oberin des Klosterinternats, welche im Traum des Mädchens die zwielichtige Rolle der Amme übernimmt. Das Glamouröse weicht aber mit der ersten Szene im Färberhaus einer ganz anderen, schrecklichen Welt. Das Färberpaar führt eine Art Geburtsfabrik; in rosa Vitrinen liegen unzählige Föten, hinter vergitterten Glasfenstern werden Babys produziert und vorbeikommenden Paaren verkauft. Allein, die Färberin ist so angewidert von ihrem Tun, dass sie selbst nicht Mutter werden will, obwohl ihr Gemahl Barak sie dazu drängt. Durch all die nun folgenden Prüfungen der beiden Paare begleitet uns das Mädchen, nimmt Partei mal für die eine Frau, dann wieder für die andere, versucht einzugreifen, zu helfen, schafft es aber nicht, da sie sich ja in einem Traum befindet und von den andern nicht wahrgenommen werden kann. Lydia Steier setzt das mit unfassbarer, hochspannender szenischer Virtuosität in Szene, schafft beklemmende, oft rätselhafte Bilder, schreckt auch vor furchteinflößendem Religionskitsch nicht zurück (der Hüter der Schwelle als giganteske Madonnenstatue, die nicht zu bezwingen ist). Das Marienbild mit Jesu im Schlafsaal wird im Traum immer wieder in Erscheinung treten, auch mit der Verwandlung zur Pietà. Auch hier wieder Seitenhiebe auf das Patriarchat, das die Frau am liebsten als Heilige mit unbefleckter Empfängnis sehen möchte. Das flexible, kunstfertige Bühnenbild von Paul Zoller mit diesen gigantischen, drehbaren Wänden ermöglicht vorzüglich die notwendigen schnellen Szenenwechsel. Raffinierte Spiegelungen und ein atmosphärisch dichtes Lichtdesign (Elena Siberski) lassen einen gebannt die spannungsgeladene Handlung auf der großen Bühne des Festspielhauses verfolgen. Die Kostüme von Katharina Schlipf folgen einer konsequenten Dramaturgie, sind an die 50er, 60er Jahre angelegt – Kittelschürzen in Rosa, „anständige“, unauffällige Strassenkleidung und einen Hauch Exzentrik bei der Gala-Robe der Kaiserin – wo ein neuer Konservatismus Einzug hielt, bevor die 68er dann dagegen auf die Barrikaden gingen.

© Martin Sigmund

Aber das Werk ist nicht nur ein aus heutiger Sicht verquerer Blick auf den „Wert“ von Frauen, sondern beglückt vor allem durch die unfassbar vielseitige, phänomenale Partitur, die zu Richard Strauss‘ genialsten Schöpfungen zählt, mag ihre Geburt auch ein „Schmerzenskind“ gewesen sein, wie Strauss später selbst sagte. Hier nun vollzog sich das eigentliche Wunder der Aufführung in Baden-Baden: Die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko legten eine Plastizität und eine Transparenz des Klanges an den Tag, die einer Offenbarung gleichkamen. Filigran, schmeichelnd, intensiv leuchtend, dann wieder schmerzhaft reibend in Cluster ähnlichen Passagen, nie zu dick, stets kontrolliert und durchhörbar auch in den vielen ekstatischen und orgiastischen Momenten, die durch das über weite Strecken sehr kammermusikalisch geführten riesigen Orchesterapparat noch an Eindringlichkeit gewannen. Da wirkte alles sehr genau und intensiv geprobt und ausgehorcht, nichts schien dem Zufall überlassen in dieser Fassung, wo die meisten üblichen Striche aufgehoben waren und die trotzdem in keinem Moment Längen aufkommen ließ. Von den unzähligen solistischen Aufgaben der Musiker der Berliner Philharmoniker sei stellvertretend die mit phänomenalem Einfühlungsvermögen gespielte Passage des Konzertmeisters vor der großen Szene der Kaiserin „Vater, bist du’s?“ erwähnt. Die sängerfreundliche Leitung Petrenkos und die dynamische Ausbalancierung kamen den Künstlern auf der Bühne zugute, welche in ihren so verdammt anspruchsvollen Partien (u.a., deshalb wird die Oper auch nicht allzu häufig aufgeführt, da sie enorm schwer zu besetzen ist) in keinem Moment zum Forcieren gezwungen waren.

© Martin Sigmund

Clay Hilley beeindruckte mit im Verlauf des Abends sich stetig steigerndem, strahlkräftigem Tenor in seinem Rollendebüt als Kaiser. Elza van den Heever begeisterte mit lichter Leichtigkeit in ihrer Auftrittsarie, nahm mit Fragilität und Empfindsamkeit für sich ein und bewies am Ende durch ihren Gesang und die gesprochenen Passagen Stärke und Empathie. Michaela Schuster erhielt für ihre grandiose Darstellung der (Nonnen-)Amme zu Recht immensen Applaus. Was für eine Verkörperung der Rolle in Mimik und Gestik und stimmlicher Kunst – eine meisterhafte Leistung. Wolfgang Koch berührte als einfacher, aber sehr menschlich gestrickter Barak mit seinem balsamischen Bariton. Miina-Liisa Värelä wurde zwar als leicht erkältet angesagt, doch davon war nichts zu hören. Sie bewältigte die kraftvollen Ausbrüche der Färberin mit kontrollierter Stimmführung, wurde nie keifend, sondern blieb stets geschmackvoll auf Linie und konnte trotzdem die Qualen dieser schwer geprüften Frau mit unter die Haut gehender Expressivität evozieren. Peter Hoare, Nathan Berg und Johannes Weisser als die schutzbedürftigen (und parasitären) Brüder Baraks, Bogdan Baciu als Statue, die sich im Traum des Mädchens in den Geisterboten verwandelt, Agnieszka Adamczak als Hüter der Schwelle und Stimme des Falken, Gerrit Illenberger, Thomas Mole und Theodore Platt als wunderschön intonierende Stimmen der Wächter der Stadt, Evan LeRoy Johnson als Erscheinung des Jünglings (er sang aus dem Off, auf der Bühne agierte ein „Star“, bei dessen Auftritt die Frauen in Ohnmacht fielen) und Kseniia Nikolaieva als Stimme von oben trugen Entscheidendes zum exquisiten Klangkolorit der Aufführung bei, genauso wie der Chor des Nationalen Musikforums Wroclaw und die Kinder und Jugendlichen des Cantus Juvenum Karlsruhe.

© Martin Sigmund

Für das Finalquartett begeben sich die beiden wieder vereinten Paare das Kinderglück lobpreisend an den linken und den rechten Bühnenrand. Die Bühne gehört nun vollständig dem Mädchen, dass wie eine Besessene Gräber öffnet, ausbuddelt, in fieberhafter Raserei Erde um sich wirft, während vom Bühnenhimmel verbrannte Papierfetzen niederschweben. Das verklärte Mensch-Werden im Schöngesang der beiden Paare gerät nun zur Nebensache (wie auch schon das Duett „Mir anvertraut“ zwischen Barak und der Färberin), die Rahmenhandlung um das „gefallene“ Mädchen wird zum Mittelpunkt des Interesses. Das ist diskutabel, mindert aber in keinem Moment die überragende pantomimische Leistung und die über drei Stunden reine Spieldauer anhaltende, ungebrochen beeindruckende Bühnenpräsenz von Vivien Hartert als Darstellerin von „Ein Mädchen“.

Kaspar Sannemann, 3. April 2023


Die Frau ohne Schatten

Richard Strauss

Baden-Baden

Osterfestspiele

  1. April 2023

Regie: Lydia Steier

Dirigat: Kirill Petrenko

Berliner Philharmoniker