Baden-Baden: „Nijinsky“, John Neumeier


Der Gott des Tanzes Vaslaw Nijinsky: 1889 in Kiew geboren, 1950 in London verstorben. Er war und ist der größte Tänzer des 20. Jahrhunderts. Er war der Dieu de la Danse und wurde zur Legende. Er war halb Mensch und halb Gott und sah sich selbst als Clown Gottes. Sein Leben spielte sich zwischen Bühne und Krankenhaus ab, seine Diagnose war Schizophrenie. Seine Karriere war zwar kurz, aber der Stern der Ballettwelt wurde zum Mythos.
Sein Leben darzustellen und zu überliefern oblag seiner Witwe Romola. Daher erging es ihm ebenso wie Friedrich Nietzsche mit seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche. Beide Frauen glätteten das Leben, die niedergeschriebenen Tagebücher und die Kunst. Sie wollten ein ideales Lebensbild ihrer Götter vermitteln und fälschten hemmungslos Bücher und Tagebücher. Romola zensierte die erste Ausgabe der von Nijinsky verfassten Bücher (Hefte) nach allen Regeln der Kunst. Zum Vergleich: der originale Titel von Nijinskys Selbstbetrachtungen Der Clown Gottes wurde zu Ich bin ein Philosoph, der fühlt. Sein Text und sein Stil haben einen sehr eigenwilligen Rhythmus, Die Sätze sind sehr kurz, wie ein musikalisches Stakkato angeordnet und drehen sich unaufhörlich im Kreise. So wie auch sein Tanz und seine späteren Choreographien.

© Kiran West


Pauk Claudel, ein angesehener Schriftsteller und französischer Gesandter in Rio de Janeiro, sah ihn 1927 tanzen und beschrieb seine Erwartungen, seinen Körper und seinen Tanz: „Nijinsky brachte etwas anderes: die Füße hatten endlich den Boden verlassen. Er brachte den Sprung, will sagen, den Sieg des Atems über das Gewicht. Die Inspiration des Tänzers, sich vom Boden zu lösen, der nur noch ein Sprungbrett ist für seine triumphierenden Füße. Es ist die Beherrschung des Körpers durch den Geist und die Nutzbarmachung des Tieres durch die Seele. Für eine Sekunde trägt die Seele den Körper. Er durchquert die Bühne wie ein Blitz. Er erhebt sie in die selige Welt der Intelligenz, der Macht und der hohen Luft. Und dieses Après-midi-d‘un Faune – welche Schönheit, Freude, bittere Melancholie. Er schritt wie ein Tiger.“
1908 begegnet Nijinsky Diaghilew, dem großen Impresario, der das kaiserliche Ballett nach Paris bringen wollte. Er wollte dass Nijinsky und die Pawlowa, die größte Ballerina der Welt dort tanzen. Über sie sagte man: „Sie tanzt nicht, sie schwebt. Sie kann über ein Getreidefeld gehen, ohne eine Ähre zu krümmen.“ Nijinsky wurde einmal gefragt, ob es nicht schwierig sei, in der Luft zu schweben und oben anzuhalten: „Nein, nein, nicht schwierig. Man muss nur hochspringen und oben ein bisschen warten.“
Diaghilew hatte eine neue Kunstform erfunden, das Ballett als Gesamtkunstwerk, ein Schauspiel, höchstens eine Stunde lang, bei dem er alle Elemente – Story, wenn es eine gab, Ausstattungen und Choreographie – mit dem Ziel in Auftrag gab, ein organisches Ganzes zu schaffen.
Es stellt sich die Frage: Ist das Außerordentliche in der Kunst mit Wahnsinn verbunden? Der Beginn für den Choreographen John Neumeier. Er steht vor einem Koloss, wenn er dem Publikum zeigen will, wer hier und heute Waslaw Nijinsky ist. Die Schwierigkeit zeigt sich sofort mit dem ersten Bühnenbild, das vertanzt werden muss: der Ballsaal des Suvretta House Hotel in St. Moritz am 19. Januar 1919. Nijinsky tanzte das letzte Mal öffentlich, dann entschwindet sein Geist in der Dunkelheit der unheilbaren Krankheit.     FOTO 2
Neumeier lehnt ab, ein Handlungsballett choreographiert zu haben. Er nennt es eine Biographie der Seele und erzählt die Geschichte mit seinen Ballettschritten, nicht mit den originalen Techniken eines Fokine vom Kirov Ballett. Fokine – Tänzer und Choreograph – sah Nijinsky als kleinen, ziemlich stämmigen Burschen mit dem alltäglichsten, farblosen Gesicht. Aber er erkannte das Genie in Nijinsky und schrieb ihm Ballette auf den Leib. Viele berühmte Sprünge, die er so ausführte dass die Zuschauer ihn nur aufsteigen sahen, aber nicht Zeuge wurden, wie er wieder landete oder den rechten Arm nach dem über dem Boden schwebenden linken Fuß ausstreckte. Tosender Jubel des Publikums.
Chopin und die drei Grazien, mit erhobenen Armen, sich an den behandschuhten Händen haltend. Ein Bild der Waganova Methode bei Kirov. Scheherazade mit Musik von Nicolai Rimski-Korsakow: Nur Nijinsky war gut für die Rolle des Goldenen Sklaven. Halb Mensch, halb Raubkatze sprang er weich und federnd über große Entfernungen, um sich in einen Hengst mit geblähten Nüstern zu verwandeln, voller Energie, kraftstrotzend, ungeduldig auf die Erde stampfend. Und der Faun: Nijinsky verlängerte seine Ohren mit Wachs nach oben, betonte seine schrägen Augen, vergrößerte seinen gutgeschnittenen Mund und verwandelte sich so in ein träges, sinnliches Geschöpf, halb Tier und halb Mensch. Seine letzte Rolle: keine Sprünge mehr – nur noch halbbewusste, animalische Gesten und Posen. Der Vorhang geht hoch: Der Faun – ein angehobenes Knie, die Flöte an den Lippen, am Boden mit dem Gesicht nach unten. Er tanzte nicht mit seinen Gliedmaßen sondern mit dem ganzen Körper.
Und was bot die Choreographie von John Neumeier? Er interpretierte das alles mit seinen Bewegungen von Armen, Händen, Köpfen, steif und ruckartig. Das war eben nicht das Legato und Phrasieren aus der Musik, die gleitende, schwingende Bewegung selbst in den großen Sprüngen über die Bühne hinweg. Sie füllten den leeren Raum (von Peter Brooks). Die Tänzer hätten wohl eine Entwicklung nach 25 Jahren bringen können, wenn man stilistisch erneuert und die Ballettsprache weiterentwickelt hätte.  
So war Alexandre Trusch ein überzeugender Nijinsky der alten Zeit. Anna Laudere gab Romola edel und fließend in der Bewegung. In ihrem langen roten Kleid fiel ihr immer die führende Kraft zu ihrem Ehemann zu, sie dominierte ihn mit vorsichtigen Bewegungen, keine extravaganten Sprünge. Edvin Revazov gab Serge Diaghilev, immer im Frack und aggressiv die Ballettsprache, um Nijinsky zu besitzen. Nijinskys Heirat mit Romola führte zum großen, abrupten Bruch der Männer.
Die Tanzrollen Nijinskys wurden von Neumeier aufgeteilt: Harlequin in Carnaval und der Geist der Rose war Daniele Bonelli; der Goldene Sklave in Scheherazade war Joseph Gray. Er tanzte, sprang und drehte sich als gelte es sein Leben und erfüllte auch den Faun mit Verve und allen Sprüngen. Petruschka war Javier Monreal. Sie alle gaben mit der heutigen Ballettmode ihr Bestes, aber sie waren eben nicht das Abbild von Waslaw Nijinsky.
Wenn man das als großer Ballettfreund noch ahnen und sehen will wer Nijinsky war, dann: The KIROV celebrates Nijinsky, von 2002 auf DVD.

© Kiran West


Zum guten Schluss für die großen Mühen und Leistungen der Tänzer, die von der Württembergischen Philharmonie Reutlingen und ihrem Dirigenten Nathan Brock (lautstark) unterstützt wurden ein Dank.
Für den Choreographen John Neumeier: Das Stück des Abends hieß Nijinsky. Nur war in dem Paket nicht Nijinsky enthalten, es war old-fashioned von 2000, es war keine Silberne Hoch-Zeit. Es wäre in den 25 Jahren sicher stilistisch zu modernisieren gewesen. So war es alter Wein in neuen Schläuchen.
Aber man sollte doch klassische Ballette belassen und Kirov, bzw. Mariinsky pflegen und als Ansporn sehen, das zu erhalten oder mal wieder einzuladen. Sic!
Das Publikum gab bei den mehr als 40 Tanznummern keinen einzigen Szenenapplaus und auch der Schlussapplaus war durchaus enden wollend. Das Festspielhaus dankte den Künstlern mit weißen Blumen – es werden doch wohl keine Beerdigungssträuße gewesen sein? Für die Zukunft gilt es zu bedenken: das Publikum war so weißhaarig wie noch nie und in Verehrung des John Neumeier befangen . Wo bleiben die jungen Leute? Hoffentlich nur ein Zufall und keine Tendenz. 
Nur die Vergangenheit zu erhalten ist kein Fortschritt. Das sei Jahn Neumeier ins Stammbuch geschrieben und motiviert ihn vielleicht, wieder kreativ zu sein und seine Tänzer in eine zukünftige Welt zu führen. Es ist vermessen, mit den begrenzten eigenen Mitteln ein Genie des Tanzes wie Nijinsky darstellen zu wollen.

Inga Dönges, 6. Oktober 2025


Nijinsky
Choreographie, Bühnenbild und Kostüme von John Neumeier

Musik von Frédéric Chopin, Nicolai Rimski-Korsakow, Dimitri Schostakowitsch und Robert Schumann

Festspielhaus Baden-Baden

Aufführung am 3. Oktober 2025
Premiere am 2. Juli 2000 vom Hamburg Ballett

Hamburg Ballett
Dirigent: Nathan Brock
Württembergische Philharmonie Reutlingen