Besuchte Vorstellung: 8.3.2014
Packender Verdi – Großartig!
Aus Anlass des Verdi-Jahres setzte Venedig im Vorjahr jene Traviata-Produktion von Robert Carsen wieder auf den Spielplan, mit der im Jahre 2004 das prächtig wiedererstandene La Fenice-Theater eröffnet worden war – natürlich auch um das 150 Jahr-Jubiläum der Uraufführung der Traviata im La Fenice am 6.3.1853 zu würdigen. Und diese Inszenierung steht im Februar und März 2014 mit einer völlig neuen Doppelbesetzung der drei Hauptpartien wieder auf dem Programm.
Im Mittelpunkt des Interesses steht in der von mir besuchten Aufführung die 29-jährige russische Sopranistin Venera Gimedieva, die nach ihrem kurzfristigen Einspringen am Bolschoi-Theater vor einer Weltkarriere zu stehen scheint. „Die Erfolgsgeschichte der Venera Gimadieva ist wie ein Hollywood-Film. Im letzten Moment ersetzte sie eine kranke Sängerin, die die Premiere der ‚La Traviata‘ singen sollte. Am nächsten Tag, wachte Venera, wie es so heißt, berühmt auf.“ So berichtete im November 2012 die Stimme Russlands – und Hollywood-mäßig wird der neue Star auch von seiner Agentur präsentiert:
Zunächst aber zur der mich restlos überzeugenden Inszenierung von Robert Carsen, die übrigens in der ursprünglichen Besetzung auch seit längerem als DVD erhältlich ist: Carsen verlegt die bereits von Alexandre Dumas mit deutlicher Gesellschaftskritik angelegte Kameliendame in die Gegenwart. Er tut damit das, was schon Giuseppe Verdi im Jahr 1853 eigentlich wollte. Verdi wollte nämlich unbedingt, das Stück solle „un sogeto dell’epoca“ – ein Stück seiner Zeit – sein. Noch drei Wochen vor der Uraufführung hoffte Verdi, das Stück dürfe in Gegenwartskostümen gespielt werden. Aber die habsburgische Polizeizensur (ja – Venedig gehörte von 1814 bis 1866 zu Österreich!) untersagte dies – und Verdi musste zu seinem großen Unwillen, das Stück in die Zeit Ludwig des XIV. verlegen. Bei Carsen ist Violetta eine Edelprostituierte in Mitten einer sexuell enthemmten und kapitalistischen High Society. Die ersten Töne des Vorspiels erklingen, der prunkvolle, dunkelblaue, golden verzierte Samtvorhang des Fenice öffnet sich langsam, um den Blick frei zu geben auf Violetta, die im Negligé auf einem überdimensionalen Sofa lagert. Hinter dem Sofa eine Fototapete mit lichtdurchflutetem Wald – von allen Seiten erscheinen schemenhaft ihre Freier und überreichen ihr Geldscheine – eine gespenstische Szene.
Nach Ende des Vorspiels stürmt die Spaßgesellschaft herein, Sekt wird gereicht – Violetta trägt nun eine strahlend-rote Abendrobe. Ein Flügel wird herein geschoben und Alfredo (der offenbar als eine Art Pressefotograf an dem Fest teilnimmt, fotografiert und seine Fotos herzeigt) wird von der Gesellschaft genötigt, sich an den Flügel zu setzen und sein Trinklied anzustimmen. Und man kann sich nicht dem beklemmenden Eindruck entziehen, dass Carsen ganz bewusst auf der Bühne das spiegelt, was man im prächtigen Zuschauerraum des Fenice-Theaters auch sieht: ein elegant gekleidetes internationales Publikum, das posiert und geradezu in einem Blitzlichtgewitter sich selbst fotografiert(Gott sei Dank nur vor Beginn der Vorstellung!). Die Parallelen zwischen Publikum und Bühne sind unübersehbar. Die Personenführung durch Carsen ist ausgefeilt – jeder auf der Bühne, ob Chormitglied, Neben- oder Hauptdarsteller, ist eine individuell gezeichnete Figur ohne hohle Operngesten – großartig!
Die dezent-elegante Ausstattung und die Kostüme stammen von Patrick Kinmonth. Das Lichtdesign ( Peter Van Praet und Robert Carsen) unterstützt die Szene hervorragend – zum Beispiel wenn im ersten Bild des zweiten Aktes die zuvor über Violettas Bett verwendete Tapete zu einem den gesamten Hintergrund ausfüllenden Bild wird und es in wunderbar ausgeleuchteter Waldatmosphäre Geldscheine regnet. Die Bühne ist abgesehen von den den Boden bedeckenden Geldscheinen völlig leer – in diesem großen Raum wird die Begegnung zwischen Germont und Violetta spannungsvoll in Szene gesetzt, ohne dass pathetische Operngesten notwendig sind – rührend-steif die Vaterfigur mit Hornbrille, verlegen aus der Brieftasche ein Foto der Tochter hervorholend. Ebenso intensiv gelingt die Szene zwischen Alfredo und Violetta: Alfredo sieht Violetta bloß durch seinen Fotoapparat – ihr Bild scheint ihm wichtiger als sie selbst, berührend-menschlich die verzweifelte Violetta.
Der Ball bei Freundin Flora spielt in einem Cabaret-Etablissement: Eine kleine Bühne mit viel Glitzer, einzelne Tische mit kleinen Lampen, Gaston als Conférencier führt durch den Abend. Die Ballettmusik ist wirkungsvoll in ein Striptease-Divertissement mit Wildwest-Girls und –Boys umfunktioniert. Im letzten Akt ist dann jeder Glanz verschwunden. Der Traum vom besseren Leben ist vorbei: Das leergeräumte Zimmer Violettas wird instandgesetzt, die Märchenwald-Tapete hängt in Fetzen von der Wand, auf dem Boden steht ein Fernseher, der kein Bild zeigt, alles ist düster, die Gesellschaft hat die Sterbende längst vergessen und feiert den bunten Karneval in Paris, Während Violetta stirbt, kommen die Bauarbeiter – die Renovierung des Raums geht weiter.
Diese durchwegs schlüssige Inszenierung von Robert Carsen und seinem Team wird in ihrer bedrückenden Dichte mit einer ebenso dichten und packenden musikalischen Interpretation durch Orchester und Chor (Leitung: Claudio Marino Moretti) unter dem dreißigjährigen venezolanischen Chefdirigenten Diego Matheusz (aus El sistema hervorgegangen) exzellent ergänzt. Das war stets spannungsvolles und nie banales Musizieren – manchmal war Matheusz vielleicht etwas zu stürmisch, sodass der Chor – speziell im 1.Akt – kaum dem Tempo folgen konnte. Aber das blieben Kleinigkeiten, die den hervorragenden Gesamteindruck nicht beeinträchtigen – so spannend und niveauvoll habe ich Verdi schon lange nicht aus dem Orchestergraben gehört.
Nun aber endlich zum Sängerensemble – auch da ist sehr Erfreuliches zu berichten. Violetta und Alfredo sind in dieser Inszenierung wirklich junge Menschen – also so, wie sich das schon Dumas vorgestellt hatte. Alfredo ist der 27-jährige Deutsch-Italiener Attilio Glaser. Er sang diese Partie hier in Venedig erstmals in großem Rahmen. Attilio Glaser ist zweifellos ein begabter junger Tenor – aber das Fenice ist wohl noch eine Nummer zu groß für ihn in dieser Rolle, die er vorher nur in der Pasinger Fabrik gesungen hatte, die sich Münchens kleinstes Opernhaus nennt. Derzeit scheint er mir in jenem Fach und an jenen Häusern besser aufgehoben zu sein, wo er demnächst singen wird (Titus in Bad Reichenhall und Fenton in Lausanne). Er zeigte an diesem Abend schöne Ansätze und sympathisches Spiel, aber es fehlte die große Verdi-Kantilene – die dramatischen Ausbrüche im 2.Bild des zweiten Aktes führten ihn an seine derzeitigen stimmlichen Grenzen. Der Beifall für ihn war zurückhaltend. Da war sein Bühnenvater, der bulgarische Bariton Vladimir Stoyanov, ein ganz anderes stimmliches Kaliber. Stoyanov steht seit über 15 Jahren in den ersten Bühnen der Welt in den großen italienischen Baritonrollen auf der Bühne – zuletzt etwa in Köln mit großem Erfolg als Carlo in der Forza del Destino. Er lieferte eine geschlossene, überaus beeindruckende Leistung in verhaltenem Spiel und mit herrlichen Belcantophrasen. Da gab es zu recht am Ende großen Jubel und viele Bravorufe! Eindrucksvoll und rollendeckend sind die Nebenrollen besetzt – unter ihnen fallen die Flora von Elisabetta Martorana, die Annina von Sabrina Vianello und der Douphol von Armando Gabba auch stimmlich positiv auf. Sie alle waren ein optimales Umfeld für die junge Russin Venera Gimadieva, die mit „ihrer“ Traviata in Venedig debutierte – die Debuts beim Glyndebourne Festival und in Paris folgen noch in diesem Jahr. Und damit komme ich zum Ausgangspunkt dieses Berichts zurück: Gimadieva sieht blendend aus, weiß sich zu bewegen und ihr Publikum gefangen zu nehmen. Im ersten Akt schien sie zunächst unnötig zu forcieren, machte aber auch schon da mit sicheren Koloraturen und besonders schönen Pianotönen aufmerksam. Im Laufe des Stückes wuchs sie immer mehr in eine berührende Rollengestaltung hinein. Mich überzeugten vor allem ihre lyrischen Phrasen vom Piano bis zum Mezzoforte. Ab dem Forte besteht manchmal die Gefahr des Forcierens, wodurch dann der Stimmsitz nicht mehr ganz zentriert bleibt. Es ist zu hoffen, dass diese kleinen Schwächen sich mit zunehmender Erfahrung geben werden. Ihrer website kann man entnehmen, dass Juliette, Lucia und Manon bevorstehen – ihre weitere Entwicklung wird jedenfalls mit Interesse zu beobachten sein. Der Jubel um sie war verdientermaßen groß. Gemeinsam mit Vladimir Stoyanov, dem Regisseur Robert Carsen und dem Dirigenten Diego Matheusz sicherte sie einen großen Verdi-Abend!
Hermann Becke, 11. März 2014
Szenenfotos: Fondazione Teatro La Fenice, © Michele Crosera
Die Traviata-Inszenierung von Carsen ist in Venedig nochmals im August und September 2014 auf dem Spielplan – dann wieder mit anderen Protagonisten!