Interview: „Franz-Erdmann Meyer-Herder“, Dramaturg am Theater Freiburg

© Philip Frowein

In seinem noch etwas provisorisch wirkenden Arbeitsraum, mit Blick auf Freiburg sitze ich dem neuen Operndramaturgen am Freiburger Theater, Franz-Erdmann Meyer-Herder gegenüber. Er gehört zum Team des neuen Intendanten Felix Rothenhäusler (siehe meinen Bericht der Eröffnungsvorstellung La cage aux folles vom 14. November), und ich treffe ihn eine Woche vor der ersten Opernpremiere, John Adams Doctor Atomic.

Meyer-Herder wurde 1990 in Lüneburg geboren, hat an der dortigen Universität seine Karriere mit dem Studium der Kulturwissenschaften begonnen, wechselte dann an die Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, um Dramaturgie zu studieren. Es folgte eine zweijährige Regieassistentenzeit am Theater Bremen und eine Dramaturgieassistenz, später das Engagement als Dramaturg an der Staatsoper Stuttgart.

Als Drag-alter ego Flametta M. Sauvage organisierte er in dieser Zeit auch Kostümbälle und Parties und kreierte das Drag-Infotainment How queer! in der Stuttgarter Clubszene.

GBS: Haben Sie Dank, dass Sie sich Zeit für ein Gespräch nehmen. Und das nur wenige Tage vor der Premiere von John Adams zweiaktiger Oper Doctor Atomic im Großen Haus und natürlich jeder Menge anderer Aufgaben, die seit Spielzeitbeginn auf Sie einstürmen. Lassen Sie uns über den so ganz neuen Wind sprechen, der hier im Freiburger Theater weht, ausgelöst vom neuen Intendanten, Felix Rothenhäusler und seinem in alle Richtungen der Stadt ausschwärmenden Team. Das soll nicht heißen, dass in den letzten Jahren, in denen Peter Carp das Heft in der Hand hatte, nicht auch viel Innovatives passiert wäre und Öffnungen zur Stadt mit neuen Spielstätten stattgefunden hätten. Was aber spürbar neu ist, ist das junge Theatermacherteam, das keine Scheu hat, das Theater zum öffentlichen Raum für Alle zu machen. Das war schon am Eröffnungswochenende Ende September spürbar. Entwickelt werden neue, quirlige Konzepte wie das „SwarmLab“ Tanzlabor zum Mitmachen für Jugendliche, Öffentliche Proben, „Concert & Crémant-Abende“ im Foyer. Und dann geht es natürlich auch um das Repertoire, mit dem Neues gewagt und Traditionellem gegenübergestellt werden soll. Wie positioniert sich in diesem Aktivitätenkaleidoskop Ihr Musiktheaterkonzept?

MH: Die Auswahl der Stücke und deren Positionierung im Spielplan geschieht natürlich genauso wie die Auswahl der Regie-Teams in enger Zusammenarbeit mit dem Generalmusikdirektor, mit André de Ridder und in Rücksprache mit Felix Rothenhäusler. Als Chefdramaturg bin ich aber natürlich auch in Supervision mit der Gestaltung des Gesamtprogramms, mit den inhaltlichen Leitlinien beschäftigt und tausche mich mit sämtlichen Spartenleitungen und den Dramaturgien über Reihen und Sonderformate aus.

GBS: Beim Blick auf Ihren Spielplan fallen einige Übernahmen auf: Produktionen aus Bremen, Zürich oder Stuttgart. Von dort, Ihrem früheren Wirkungsort, kommt Erda Speaking Hellohello, eine von Ihnen und Rothenhäusler entwickelte live-performance, die mit Richard Wagners Ring spielt. Heißt das, es wurde schon im Vorfeld darüber nachgedacht, welche Produktionen aus anderen Häusern übernommen werden?

MH: Dahinter steckt ein Produktions- und Programmierungsprinzip, das in Deutschland noch immer nicht sehr verbreitet ist. Durch Übernahmen und Koproduktionen versuchen wir in einzelnen Projektzusammenhängen das Prinzip Nachhaltigkeit auf künstlerischer wie planerischer Ebene mitzudenken. Es gibt Produktionen, die an anderen Theatern bereits durch mehrere Aufführungsserien gegangen sind und „abgespielt“ werden sollen, weil die meisten Menschen sie bereits gesehen haben. Die kann man aber gut mit der fertigen Ausstattung an einem anderen Haus übernehmen und neu einstudieren. Das ist eine Praxis, die z.B. in Frankreich seit Jahrzehnten üblich ist, während es hier immer noch ein wenig diesen deutschen Stadttheater-Dünkel gibt, der besagt, dass alles immer komplett neu produziert werden muss. Sonst, so klang es ja schon in der einen oder anderen hiesigen Kritik an, wird der Vorwurf laut, dass man nur das alte Zeug auftischen würde. Da kann man sich schon fragen: Alt für wen?

GBS: Ja, in dieser Richtung wurde tatsächlich Ihr Spielzeitbeginn, etwa das Musical Wasserwelt von Jan Eichberg und Felix Rothenhäusler kommentiert, das für das Theater Bremen entstand. Natürlich ist der eine oder andere Rezensent irritiert gewesen und hat nach dem tieferen Sinn gefragt. Wie war die Besetzungsfrage gelöst worden auch angesichts der Tatsache, dass der Sound vorproduziert wurde, die Vorstellung also als Playback läuft. Waren alle Darsteller aus Bremen?

MH: Zum größten Teil. Jorid Lukaczik in der Rolle des Krebses Nat ist mit ins Ensemble gekommen, Nadine Geyersbach, Andy Zondag, Matthieu Svetchine (als Zweibeinerkind Lio) sind in Bremen wichtige WegbegleiterInnen von Felix Rothenhäusler gewesen, genauso wie Siegfried Maschek, der in der Rolle des Blauwals und Kochs als Gast dabei ist. Lange Zeit gehörte auch er zu allen wichtigen Produktionen von Felix in Bremen und ist damit auch ein wichtiger Weggefährte. Stefanie Mrachacz in der Rolle der „schwarzen Raucherin“ ist aus dem Ensemble von Peter Carp übernommen worden. Lara Amelie Sauer ist mit dem neu gegründeten Schauspielstudio in Kooperation mit der Hochschule in Bern dazugekommen. Übernahmen lassen sich im Sinne von Nachhaltigkeit auch so konzipieren, dass sie neue Möglichkeiten freisetzen. So konnten wir durch die Übernahme der Wasserwelt– Ausstattung vom Theater Bremen den Bau einer Drehscheibe im kleinen Haus ermöglichen. Die ist jetzt als Bühnenelement auch in anderen Produktionen einsetzbar.

GBS: Lassen Sie uns noch genauer auf die Spielplangestaltung schauen. Da folgen auf die Wasserwelt im Schauspiel die „anarchisch, turbulente“ Hans Christian Andersen-Adaption Die wilden Schwäne, Lena Reißners Verdammt verwandt. Eine mythische Familie, Kleists  Der zerbrochne Krug, die Bühnenshow Josephine Baker oder im Musiktheater Audioinstallation mit Live-Gesang von Ville Haimala, Ihre und Felix Rothenhäuslers erwähnte wagnerinspirierte „musikalische Traumreise“ Erda speaking als pop-up-Oper. Dazwischen das Highlight, Jerry Hermanns immer noch mitreißendes Musical La cage aux folles und Händels Zauberoper Alcina als Wiederaufnahme der letzten Spielzeit. Und am 29. November erwartet uns die erwähnte Premiere von John Adams grandioser Oper Doctor Atomic. Eine Spielplangestaltung der Gegensätze und Kontraste?

MH: Tatsächlich ist das so ein bisschen eine Zusammenstellung, die auch mit den Personalien zu tun hat. Marco Štorman, der Regisseur von Doctor Atomic, ist mir seit vielen Jahren bekannt. Er hat auch im Theater Bremen tolle Arbeiten gemacht, z.B. Benjamin Brittens Peter Grimes oder Wagners Parsifal. Štorman war daraufhin auch auf der Liste für die Staatsoper Stuttgart, mit meinem ehemaligen Chef, Ingo Gerlach, mit dem er eine enge Arbeitsbeziehung und auch Freundschaft pflegt. 2019, in der ersten Spielzeit von Viktor Schoner, hat er in Stuttgart John Adams Nixon in China inszeniert. Und das war für mich die erste Begegnung mit André de Ridder, der die musikalische Leitung hatte. André hat Štorman dann in seiner Antrittsproduktion hier in Freiburg für Alban Bergs Wozzeck als Regiewunsch mitgebracht. Und so hat sich die Zusammenarbeit weiterentwickelt. Felix und ich haben die Wozzeck-Vorstellung damals besucht, um uns, schon ein halbes Jahr bevor die Ausschreibung bekannt wurde, mit dem Freiburger Theater vertraut zu machen. Und so kam es dazu, dass ich vorschlug, sich weiter mit John Adams und seinen Werken zu beschäftigen. Der Nixon in China war in der Zeit, in der ich in Stuttgart gearbeitet habe, meiner Meinung nach eine unserer besten Produktionen. Und Atomic ist ja in den hiesigen Theatern seit der deutschen Erstaufführung 2010 auch richtig eingeschlagen.

GBS: Ja, 2013 ging der Götz Friedrich Preis an die Atomic-Produktion der Staatsoper Karlsruhe.

MH: Die Handschrift des Regisseurs Marco Štorman ist sehr besonders. Sie lebt von der Reduktion. Ich ziehe den Hut davor, dass er sich darauf verlässt, genau zu wissen, was das Orchester an Farben mitbringt, und dass dieses Stück nichts dadurch gewinnt, wenn man anfängt, die Leere mit szenischem Aktionismus zu füllen. Das heißt, er hält die Leere als gestalterisches Prinzip aus.

GBS: Die wird ja auch in der 2007 gedrehten Dokumentation über die Entstehung der Oper, mit dem Titel Wonders Are Many deutlich, in der Gerald Finley die Rolle des Physikers Robert Oppenheimer singt.

MH: Es geht in der Oper eigentlich nicht so sehr um das konkrete Ereignis der ersten Atomexplosion in der Wüste von Los Alamos, sondern um die Veränderungen in Hinblick auf das Leben im weitesten Sinne.

GBS: Wie haben Sie sich das Werk erschlossen, in dem ja für den Librettisten Peter Sellars die historischen Dokumente eine wichtige Rolle spielen, etwa die US-amerikanischen Regierungsdokumente und privaten Korrespondenzen der am Test Beteiligten, auch die zitierte Lyrik, die in den Text einfließen?

MH: Das Projekt habe ich leider nicht selber als Dramaturg betreut, ich habe es an Caroline Scheidegger, die auch vom Theater Bremen hier mit hergekommen ist, weitergegeben, und sie hat es mit Marco und André entwickelt. Unser Fokus lag weniger auf dem, was nach dem Countdown folgt, sondern auf dem was geschieht, wenn der Countdown und die Zündung passiert ist. Dass die Katastrophe also bereits hinter uns liegt, ist eine zentrale These der Regie und Absprungpunkt für die Regiekonzeption. Das ist nicht innerhalb der Diegese des Stückes gemeint, sondern historisch. Wir haben die Katastrophe schon längst erlebt, weil die Atombombe bereits gezündet und als Massenvernichtungswaffe gegen Menschen eingesetzt worden ist. Die Katastrophe liegt also nicht vor, sondern hinter uns. Wie verändert das unsere Perspektive auf das Leben an sich? Wie ist mit der Tatsache umzugehen, dass wir uns aus Sicherheitsbedürfnis paradoxerweise einem ungebändigten Todesdrang folgend eine Waffe geschaffen haben, die uns alle auslöschen kann? Hat sich damit etwas zum Positiven verändert? Das sind die Fragen, die sich Peter Sellers und Adams stellen. Angesichts dessen, was in Hiroshima und Nagasaki nur wenige Tage nach der Trinity-Probezündung in der Wüste von Los Alamos passiert ist, war dieses Atombomben-Experiment alles andere als ein Akt der Selbstverteidigung.

GBS: Lassen Sie uns noch einmal zur Entstehungsgeschichte des Librettos und zum zugrundeliegenden Quellenmaterial zurückkehren.

MH: Peter Sellars und John Adams arbeiten seit Jahrzehnten miteinander. Bei der Oper Nixon in China war Peter Sellars 1987 der Uraufführungsregisseur, Alice Goodman lieferte das Libretto. Dann stieg auch Peter Sellers irgendwann als Librettist in die Arbeit mit Adams ein. Wohl, weil es ein Grundverständnis über das Thema gab, das sich Adams mit Doctor Atomic gestellt hatte.

Das Ursprungsvorhaben über den Physiker Robert Oppenheimer war viel ausführlicher. Es kam dem Narrativ eines Biopics nahe, bis hin zum Prozess und dann der Rehabilitierung. Später wurde das alles stark reduziert und erzählt wird lediglich von zwei Tagen und Nächten im Jahr 1945, basierend auf Originalzitaten, wie sie eben aus den Akten nachzuvollziehen sind. Das wird verschränkt mit naturwissenschaftlichen Texten, Poesiezitaten von Charles Baudelaire und des englischen Metaphysikers John Donne und einfachen Erklärungen, z.B. zur Kernspaltung. Mit der Integration von lyrischen Passagen wird Oppenheimer als Intellektueller, als Ästhet spürbar, der Poesie gelesen hat wie Physik und Physik wie Poesie. Damit wird weniger die Geschichte nacherzählt, sondern es geht um die Psychologie des Ganzen. Ich finde, dadurch ist ein ganz besonderes Stück entstanden, das es einem Regisseur wie Marco Štorman erlaubt, eine ziemlich radikale Deutung vorzunehmen. Für mich ist Oppenheimer ein Dante im Inferno und man geht mit ihm immer einen Höllenkreis weiter herunter und weiß gar nicht, wann das Ende erreicht ist. Und das ist schon ziemlich irre an dem Abend.

GBS: Gibt es Striche und Kürzungen, denn die Aufführungsdauer liegt bei mehr als 3 Stunden?

MH: Es gibt ein paar Striche, die mit dem Komponisten besprochen wurden. Leider ist er nicht bei unserer Premiere, sondern arbeitet an seiner neuen Oper.

GBS: Darf ich noch einmal zurückkehren zu den grundsätzlichen Statements der neuen Intendanz. Denn ein Satz in den Ankündigungen hat mir großen Eindruck gemacht. Rothenhäusler und sein Team wolle ein „modernes Volkstheater – offen, mutig und direkt“.

Können Sie zu dieser Bezeichnung etwas sagen?

MH: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, da muss man einmal kurz vorschalten: das Volk in einem Volkstheater, das könnte man mit einem Sternchen versehen. Denn diese Behauptung setzt auch voraus, den „Volksbegriff“ an sich über neue Publikumsschichten zu thematisieren. Uns geht es schlicht darum, ein möglichst breites Publikum zu erreichen und der Verantwortung dafür insoweit gerecht zu werden, dass wir nicht für ein Entweder-Oder stehen, sondern für ein Sowohl-als-auch. Wir stehen weder nur fürs Experimentelle und die „Feuilleton-Projekte“ und das, was man nur mit einer gewissen Expertise verstehen kann, noch ausschließlich für Boulevard-Komödie und Unterhaltung. Wir stehen für beides – oder anders formuliert: wir stehen für vieles, weil das tatsächlich auch unserer eigenen Interessenslage entspricht. Wir versuchen, keinen Unterschied zwischen dem Populären und dem Erhabenen zu machen. Diese Brücke zu bauen ist der Wunsch für unsere Programmgestaltung an diesem Stadttheater gewesen, diese Bandbreite wirklich glaubhaft zu machen. Die Leute sollen verstehen, dass es unterschiedliche Angebote gibt und der Zugang immer daher kommt, dass wir uns fragen: „Für wen ist das eigentlich gemacht?“

GBS: Ist das auch als Reaktion auf gesellschaftliche, soziale Transformationsprozesse zu verstehen? Wo steht die Diskussion um den passenden Schlüssel in der aktuellen Theaterpolitik, die auf Publikumsschwund etc. reagieren muss? Wie kriege ich das in den Griff?

MH: Ich glaube, wir müssen das ganzheitlich betrachten. In der Programmplanung schauen wir erstmal, dass wir z.B. im Musiktheater mit verschiedenen Stilrichtungen und Handschriften auch eine möglichst große Bandbreite präsentieren, sodass es schillert! Also dass unterschiedlichste Facetten zum Vorschein kommen und es nicht immer die gleichen Projektzuschnitte sind und man von einer Sache nur Variationen hat, sondern wirklich auch Dinge miteinander kontrastieren dürfen. Wie vorhin schon angedeutet: La Cage und Doctor Atomic in der Abfolge sind das beste Beispiel, denn größer kann der Kontrast kaum sein. Dadurch erhoffen wir uns, Aufmerksamkeit zu generieren, sodass die Leute sagen, „Ah, es ist jedes Mal auf seine eigene Art was Besonderes“.

GBS: Also Cage als Boulevardklassiker, mit einer immer noch sehr virulenten Hintergrundproblematik und Atomic als Blick in die Forschungsabgründe und Mahnung angesichts unserer Weltprobleme. Und mit der Wasserwelt ein Blick in die Tiefe und auf die lauernden Umweltfragen. Und wo siedeln Sie die lange Theater- und Operngeschichte, den Griff ins Repertoire an?

MH: Spätestens mit Verdis Rigoletto erscheint ab dem 24. Januar eine der packendsten italienischen Opern des 19. Jahrhunderts. Ich bin großer Fan der italienischen Oper. Was den Bel Canto angeht, so verehre ich am ehesten Vincenzo Bellini. Aber ich habe selber noch keine gute Idee dafür, auf welche Weise man den Schematismus dieser Stücke knacken sollte. Da ist mir ein Verdi durchaus näher, der ja auch noch aus der Belcanto-Tradition kommt, aber die Dramaturgie weiterentwickelt hat. Und über diese szenischen Zusammenhänge von Ensemble und Arie, finde ich, gestaltet er viel unmerklicher einen dramatischen Bogen, als es noch Bellini, Donizetti oder Rossini mit ihren mehr oder weniger schematisierten Abläufen geschafft hätten.

Mozart haben wir jetzt auch erstmal nicht, aber wir haben das große Mozart-Vorbild, Christoph Willibald Gluck, mit dessen Iphigénie en Tauride wir ab März 2026 eine der spannendsten Partituren des 18. Jahrhunderts im Spielplan haben. Und es ist mir erst im Nachhinein so richtig aufgegangen: wir decken eigentlich ziemlich alle Epochen ab in dieser ersten Spielzeit. Also frühes 18. Jahrhundert mit Händels Alcina – Wiederaufnahme, spätes 18. Jahrhundert mit Glucks Iphigénie, mit Rigoletto sind wir im mittleren 19. Jahrhundert, mit Doctor Atomic im frühen 21. Jahrhundert. Wir haben das Musical aus den 80ern und dann noch frühes und mittleres 20. Jahrhundert mit Europa „eine Reise in die Psyche des Zivilisationsbruchs“ nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier (1991). In dieser Adaption für die Bühne spielt Musik von Richard Strauss, Gustav Mahler, Hanns Eisler oder György Ligeti eine Rolle. Erzählt wird die Geschichte eines jungen Amerikaners mit deutschen Wurzeln, der 1945 ins kriegsversehrte Deutschland kommt. Er steckt voller Optimismus und Vitalität und würde gerne beim Wiederaufbau helfen, aber wird in ein Netzwerk von weiterhin agierenden Nazi-Partisanen hineingezogen und muss miterleben, wie Menschen an ihrer unaufgearbeiteten Schuld zugrunde gehen. Das ist sehr geschickt in diesem Film erzählt, nicht als Historienporträt, sondern als eine fiktive Geschichte, die eher darauf aufbaut zu fragen: „Was ist denn lebendig geblieben von dem, was da zwischen 1933 und 1945 passiert ist? Was hat das erst ermöglicht und weshalb sollten wir zu keiner Sekunde davon ausgehen, dass das nicht heute auch immer noch mitläuft?“ Dadurch ist es natürlich extrem zeitgemäß, was da passiert. Wir haben gesagt, dieses Filmskript intermedial auf die Theaterbühne zu bringen, ist mit einer Frage verbunden, nämlich was wir vom Genrewechsel haben? Und daher machen wir einen Musiktheaterabend daraus und ziehen eine weitere Ebene ein, auf der auch etwas verhandelt wird über die Komponisten, die für die romantische Tradition, Weltromantik stehen, die durch die Nationalsozialisten vereinnahmt wurden und einen zurückweisenden oder bewussten Bruch mit der romantischen Tradition bedeuten. Und deswegen werden die Werke von Schubert über Liszt, Strauss bis Paul Dessau zitiert. Wir haben sogar noch Charles Ives The unanswered question von 1906 hineingenommen und lassen ein großes Panorama für das Musiktheater entstehen.

GBS: Bleibt noch die postminimalistische, 2016 uraufgeführte „Pop-up-Oper“ The Loser von David Lang nach Thomas Bernhardts Skandalroman Der Untergeher mit derzeit noch nicht festgelegtem Premierendatum.

Damit haben Sie das vielschichtige Spielzeitspektrum und den sozialen Auftrag aufgezeigt und interpretiert. Gestatten Sie noch ein kleines Aperçu, dass es nämlich wieder die taschentauglichen Programmhefte in rotem Oktavformat gibt, Sie an dieser alten Tradition anknüpfen und sie festhalten werden, wie Sie mir erzählten.

Auf alles Kommende freue ich mich sehr und wünsche Ihnen viel Erfolg und lebhaftes Echo! Sehr herzlicher Dank für unser Gespräch und Ihre Zeit.  

Gabriele Busch-Salmen 6. Dezember 2025


Interview
Franz-Erdmann Meyer-Herder