Bad Kissingen: „Hindemith, Beethoven, Tschaikowsky“, Kammerphilharmonie Bremen unter Jérémie Rhorer

Die „Deutsche Kammerphilharmonie Bremen“ ist in jeder Hinsicht ein außergewöhnliches Orchester. Im Jahre 1980 auf der Nordseeinsel Föhr als „Kammerorchester der Jungen Deutschen Philharmonie“ gegründeten, wollten die jungen Musikstudenten nur vor allem auf eine neue, freie Art musizieren. Zunächst lief alles streng basisdemokratisch: jeder Geiger musste auch mal Stimmführer sein und für die Dirigate galt ein Rotationsprinzip. Im Jahre 1987 erfolgte eine Institutionalisierung des losen Zusammenschlusses zu einem professionellen Kammerorchester als Gesellschaft bürgerlichen Rechts und die Truppe verlegte 1992 ihren Sitz nach Bremen. Nur für die Musik wollten die Orchestermitglieder leben! Da sie aber den Umgang mit Finanzen kaum beherrschten, stand 1998 jeder Musiker für einen Schuldenberg von 1,5 Millionen DM in der Haftung. Der Klangkörper stand vor der Auflösung, als der Musiker Albert Schmitt entschied, seinen Kontrabass zur Seite zu stellen, um sich als Manager zu erproben. Mit breiter Unterstützung, auch von außen, baute er das Orchester zum Unternehmen mit professionellem Marketing und einer systematischen Marktstrategie, einer GmbH mit etwa vierzig Gesellschaftern, um. Mit dem Wirtschaftswissenschaftler Christian Scholz (1952-2019) entwickelte das Orchester Trainingsmethoden, wie zwar jeder der Musiker für das Wirtschaftliche des Orchesters „Ein Primus inter pares“ sein kann, aber sich bei der Arbeit dem Willen eines Dirigenten unterzuordnen hat.

Im Jahre 2004 hat der estnische Dirigent Paavo Järvi die Künstlerische Leitung der Musikerformation übernommen und zu einem weltweit führenden Orchester geformt. Järvi hat, wie er mir versicherte, trotz vielfältiger Verpflichtungen absolut nicht die Absicht diese Aufgabe aufzugeben. Für ihn sind die „Bremer“ das absolute Dream-Team. Er kenne kein anderes Orchester, in dem die Musiker derart begeistert an Interpretationen arbeiten, proben und im Konzert musizieren. Hinter dem Erfolg, jenseits konventioneller Interpretationen, stehen umfassende Auseinandersetzungen mit den Komponisten und deren Intensionen.

© Caroline Detrois

Während in der reichen deutschen Orchesterlandschaft die öffentlich rechtlichen Klangkörper vorherrschend mit 80 bis 90 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, erwirtschaftet die Bremer Kammerphilharmonie mit Konzerteinnahmen, Vermarktung von Bild bzw. Tonrechten, Honoraren und Sponsoring über Zweidrittel des gesamten Budgets.

Im Zeitraum von 2017 bis 2021 war die „Deutsche Kammerphilharmonie Bremen“, meistens mit den Dirigaten von Paavo Järvi, das Residenzorchester des Festivals „Kissinger Sommer“.

Am 29. Juni 2024 spielten die „Bremer“ im Max-Littmann-Saal allerdings unter der Leitung des charismatischen Jérémie Rhorer. Zu Beginn des Konzertes dirigierte er die Ballett-Ouvertüre „Amor und Psyche (Fernesina)“ von Paul Hindemith aus dem Jahre 1943. Ob Hindemith überhaupt beabsichtigt hatte, eine derartige Ballettmusik zu schreiben sei dahingestellt. Er hatte nur eine unklar formulierte Bestellung des Eugene Ormandy (1899-1985) vom Philadelphia Orchestra akzeptiert, den er dann mit dieser Ouvertüre abspeiste. Angeregt zur Komposition hatte ihn ein Besuch der römischen Villa Fernasina, in der ihn eine von Raffaello Santi (1483-1520) entworfene Gemäldereihe inspirierte. Raffael hatte das Sujet den elf Bänden „Metamorphosen oder Der goldene Esel“ des römische Dichter-Philosophen Apuleius (vermutlich 124-170) entnommen. Jérémie Rhorer dirigierte das Stück, wie man einen kontrapunktisch glanzvollen Hindemith mit seinen gekonnten Wendungen vom Schnellen zum Langsamen und zurück zum Schnellen darbieten kann. Auch boten die Solo-Instrumentalisten des Orchesters, allen voran die Holzbläser, ihren Part hervorragend. Aber eine Märchenerzählung von der Beziehung des Gottes Amor mit einer Menschenfrau, die an der Neugier der Cloe scheiterte, konnte ich beim besten Willen nichts hören. Der Beifall des Kissinger Publikums war deshalb auch höflich und dürfte vor allem der Sympathie, die das beliebte Orchester geniest, geschuldet sein.

Der zweite Teil des Konzertes gehörte dem Preiskonzert des Gewinners  des „Kissinger Klavier-Olymps 2023“. Der ungarische Pianist Mihály Berecz, der die Jury im vergangenen Jahr mit seinem technischen Können und strukturbewussten Interpretationen überzeugt hatte, stellte sich mit Ludwig van Beethovens (1770-1827) „Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll“ dem Publikum des Festivals vor.

Fast drei Minuten musste sich der 26-jährige Solist die Aufgabenstellung der Bremer Kammerphilharmoniker anhören, bevor er antworten durfte. Konzentriert saß er am Flügel und verfolgte die Exposition des Orchesters. Als die Musiker eine kleine Pause machten, stieß er mit einem kräftigen Akkord in die Lücke und konnte endlich zeigen, welche solistische Reife er bereits erreicht hat.

© Hannah Becker

Vom Beginn des erste Satzes „Allegro con brio“ beeindruckte seine technische Brillanz und sein tiefes Verständnis für die Beethoven-Komposition. Mit klarem, kraftvollem Spiel zog Berecz sein Publikum in seinen Bann. In den dramatischen Passagen beeindruckte die Intensität seines Spiels, während die lyrischen Momente seine sanfte Seite zeigten. Auch die anspruchsvolle Kadenz spielte Berecz mit einer gesunden Mischung von Virtuosität und Sensibilität.

Am offensichtlichsten zeigte sich seine stilistische Reife im Largo, als er mit leuchtendem Ton und diskreter Dynamik die meditativen Passagen mit extremer Zartheit spielte, dabei eine faszinierende fast altväterliche Ruhe ausstrahlte. Mit seiner Sensibilität und Zurückhaltung bot ihm Jérémie Rhorers Dirigat den Raum für sein Spiel. Die Kammerphilharmoniker sorgten mit der Präzision, Eleganz und Leichtigkeit des Zusammenspiels für einen prachtvollen Gesamteindruck.

Das „Rondo Allegro“ gestaltete Mihály Berecz mit Balance zwischen Energie und Eleganz zu einem fulminanten Finale. Dynamische Wechsel und eingestreute lockere Elemente waren hervorragend herausgearbeitet und betonten die anspruchsvollen Passagen. Seine Interpretation des Konzertes hatte klare Konturen und bewiesen seinen weit gespannten Ausdrucksradius.

Für den frenetischen Beifall bedankte sich Mihály Berecz mit zwei Zugaben. Mit einem „Bach“ demonstrierte er, dass er auch hochvirtuos spielen kann und würdigte mit einem „Ungarischen Tanz“ von Béla Bartók (1881-1945) sein Heimatland.

Den abschließenden Teil des Konzertes der „Deutschen Kammerphilharmonie Bremen“ bildete aus dem Standartrepertoire des Orchesters Pjotr Tschaikowskys Symphonie Nr. 6 h-Moll „Pathétique“. Es war aber eine „Pathétique“, in der Jérémie Rhorer mit dem Orchester gelang, Altbekanntes ganz neu klingen zu lassen. Bekanntlich bedeutet der Beiname der Komposition nichts anderes als „die Leidende“. Aus ihr schreit die Qual Tschaikowskis, ob seiner homosexuellen Neigungen und seine Angst, um mögliche Konsequenzen. Das allzu häufig extrem bedeutungsschwanger Überladene des Werkes ließ Rhorer erfrischend leichter klingen. Offenbar half ihm auch die prachtvolle Klangentfaltung im Max-Littmann-Saal, dass die nicht so gewaltige Streicherbesetzung der „Bremer“ von der großen Anzahl der solistisch besetzten Bläsergruppen im dynamischen Gleichgewicht bleiben konnte. Den Kopfsatz begann Rhorer mit eher gemächlichem Tempo, ohne breite Auswalzungen. Dafür ließ er einige Detail hörbar werden, so dass das „Adagio-Allegro non troppo“ an eine Naturbetrachtung statt an ein ringendes Individuum erinnerte. Auch den Folgesatz formte der Dirigent mit großer Akkuratesse ohne großartig aufzutrumpfen. Verblüffend leicht scheint Tschaikowsky, bis Rhorer mit dem „Allegro molto vivace“ das Tempo anzog, die Bläsermacht der „Bremer“ aktivierte, und das Orchester mit großen Tutti-Passagen ins Extreme führte. Grell und äußerst präzise wurden die rauschenden Kaskaden vom Orchester ausgeführt. Dieser regelrecht überbordende Klangrausch führte zu einer optimistischen Stimmung, die in den tragischen Finalsatz strahlte. Die von Tschaikowsky angekündigten „subjektiven Gefühlsregungen, die für alle ein Rätsel bleiben sollten“, lösten sich vom tragischen Schicksal des Komponisten und die vom Komponisten inszenierten Seelenqualen verfehlten die niederdrückende Wirkung. Damit hatte ich eine neue, zeitgemäße „Pathétique“ erleben dürfen.

© Marianne Thielemann

Die erlösten Zuhörer bedankten sich mit einem für „Pathétique-Aufführungen“ selten heftigen Beifall. Offensichtlich hatten viele Besucher ähnliche Empfindungen.

Thomas Thielemann, 1. Juli 2024


Paul Hindemith; Amor und Psyche- Ballett-Ouvertüre
Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr.3 e-Moll
Pjotr Tschaikowsky: Symphonie Nr. 6 h-Moll „Pathetique“

Bad Kissingen,                    
Max-Littmann-Saal
Gastkonzert der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen

Juni 2024

Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Dirigent: Jérémie Rhorer