Luzern: „Konzert“, Renée Flemming, Evgenij Kissin

Sie sind leider etwas aus der Mode gekommen, die Liederabende oder Rezitals, denn sie bereiten nicht den sofortigen wohligen Schauer sängerischer Hochseilakte wie dies Arienabende aus Opern vermögen, sondern erfordern konzentriertes Zuhören – und Zeit und Offenheit, sich auf die poetische Verschmelzung literarischer Texte mit Musik einzulassen, vor allem dann, wenn nicht nur die altbekannten „Hits“ des umfangreichen Liedrepertoires präsentiert werden. Gestern Abend in Luzern dauerte es ein Weilchen, bis sich das Publikum erwärmt hatte und sich bewusst wurde, was für subtile musikalische Leckerbissen und Kostbarkeiten es da präsentiert bekam. Die beiden Weltstars, die Sopranistin Renée Fleming und der Pianist Evgeny Kissin, präsentierten ein vielschichtiges Programm ausserhalb der oft beschrittenen Pfade, mit Werken von Schubert, Liszt, Rachmaninoff und Duparc.

Die im Februar 64 Jahre alt werdende Sopranistin hat ihre Weltkarriere dank einer klugen, stets auf ihre stimmlichen Möglichkeiten angepassten Auswahl des Repertoires auf ein dermaßen solides Fundament gebaut, dass ihre wunderschöne Stimme ihren unverwechselbaren Glanz, die perfekte Rundung und die leuchtende Strahlkraft stets bewahrt hat – wie gestern Abend anlässlich ihres Konzerts zu bewundern war. Vor kurzem hat sie sich entschieden, ihre bisherigen „Signature“- Rollen wie Marschallin, Arabella, Desdemona u.v.a.m. abzulegen und nur noch in neuen Partien und in Liederabenden und Konzerten aufzutreten.

Am Anfang ihres Rezitals mit Evgeny Kissin standen vier Lieder von Franz Schubert. Bereits im ersten, „Suleika I“, bewunderte man die perfekte Fokussierung der Stimme Flemings und die phänomenal austarierte Klavierbegleitung durch Kissin, zart, fein ziseliert und eben diese wunderbare Verschmelzung von Stimme und Klavier erzielend. Witzig geriet das kurze darauffolgende Lied „Die Vögel“, fein hingetupfter Schalk. Im „Nur wer die die Sehnsucht kennt“ begeisterten die herrlichen, langgezogenen Bögen der perfekten Phrasierung und das erlebbar gemachte Leiden des einsamen Erzählers (Goethe). Gerade im Piano und im Mezzoforte klang Renée Flemings Stimme balsamisch schön. Nach dem passend in schnellem Tempo vorgetragenen „rastlose Liebe“ (ebenfalls eine Goethe-Vertonung), glänzte Evgeny Kissin mit zwei Perlen aus Franz Liszts unermesslich reichem Notenmaterial für Klavier: mit „Sposalizio“ aus „Années de pèlerinages“ und mit einem „Valse oubliée“. Sposaliuop ist ein ganz spezielles Werk, nicht auf oberflächlichen Effekt ausgerichtet. Es beginnt etwas sperrig mit der pentatonischen Melodie der linken Hand, die bald in einen paradiesischen Zauber mündet. Dieser introvertierte Teil kontrastiert mit gewaltigen Ausbrüchen, stupenden Begleitfiguren der linken Hand zu den triumphal krachenden Oktavakkorden der rechten. Evgeny Kissin führte uns dieses von Raphaels Bild „Die Vermählung Mariäs“ inspirierten Tongemälde in seiner ganzen Plastizität vor Augen. Ein subtiles, verhauchendes Ritardando ließ das Stück verklingen. Perlend und rasant zog der Valse oubliée vorbei, fulminant und mit frappierender Leichtigkeit von Kissin gespielt.

© Philipp Schmidli

Nun war die Reihe wieder an der Sopranistin. Mit leuchtender Intensität trug Renée Fleming drei Lieder aus Liszts Feder vor: Zwei davon auf Gedichten von Goethe, eines fußte auf einem Text von Heinrich Heine. Beeindruckend die kontrollierte Stimmführung, die klangliche Balance zwischen Stimme und kunstvoller Klavierbegleitung. Gerade in den kurzen Vor- und Nachspielen konnte Kissin aufhorchen lassen. In der Heine-Vertonung gelang es Renée Fleming auch, die unangenehm tiefen Töne mit vorzüglicher Stimmtechnik ohne „brustigen“ Druck zu erreichen.

In diesem Jahr wird bekanntlich des 150. Geburtstags von Sergej Rachmaninoff gedacht, der einige seiner bekanntesten Werke am Vierwaldstättersee geschaffen hatte. Von ihm hörten wir nach der Pause die Lieder „Lilacs“ und „A Dream“. Renée Fleming trat nun in einem wunderschönen Kleid, von edlem Rotgold auf. Im Farbton dieses Edelmetalls glänzte auch ihre Stimme, sie erklomm die Höhen mühelos und einschmeichelnd und blieb in den forte-Passagen der Traumerzählung stets kontrolliert, verzichtete wohltuend auf Exhalationen. Mit brillantem, ausdrucksstarkem und kraftvollem Spiel ergänzte Kissin den Rachmaninoff-Block mit „Mélodie“ und „Serenade“ aus den „Morceaux de fantaisie“ des Russen.

Selbst das an diesem Abend zu Beginn etwas zurückhaltend applaudierende Publikum erwachte nun aus seiner Lethargie. Mit den Liedern „S´il es un charmant gacon“ und einem von Renée Fleming zum Dahinschmelzen schön vorgetragenen „Oh! Quand je dors“ gings nochmals kurz zurück zu Franz Liszt, bevor das offizielle Programm mit den beiden Liedern von Henri Duparc seinen Abschluss fand: „Extase“, ganz fein parfümiert den französischen Esprit einfangend und „Le manoir de Rosamonde“, wo Renée Fleming zu dramatischem (und augenzwinkerndem) Erzählen fand, die stimmliche Wohlfühlzone mutig und doch stets geschmackvoll verließ.

Gleich drei Zugaben liessen sich die beiden Stars entlocken: Schuberts „Ava Maria“, von exemplarischer Innigkeit beseelt, der „Frühlingswalzer“ von Rachmaninoff, attackierend und mutig die bequeme Mittellage der Stimme verlassend und „Morgen“ von Richard Strauss, wo Renée Fleming noch einmal ihren so wunderbaren Strauss’schen Silberglanz verströmen konnte und Evgeny Kissin im Nachspiel eine tief empfundene Melancholie (mit effektvollen Rubati) aufschimmern ließ. Wunderbar!

Kaspar Sannemann 23. Januar 2023


Luzern, Konzert

23. Januar 2023

Renée Fleming / Evgenij Kissin

Franz Schubert

Franz Liszt

Sergej Rachmaninoff

Henri Duparc