Seit sich mein neuntes Lebensjahrzehnt zunehmend dem Ende zuneigt, beobachte ich intensiver, wie die aktiven Kulturschaffenden sich um das Auffüllen der biologisch bedingten Ausfälle der Besetzung der Konzertsitzplätze bemühen. Mitglieder der Sächsischen Staatskapelle gestalten seit dem Jahre 2004 unter dem Motto „Kapelle für Kids“ Musikvermittlungsprogramme für Kinder, um auf diesem Wege einer Überalterung des Dresdner Konzertpublikums entgegen zu wirken. Allen voran, als wichtigster Initiator und inzwischen künstlerischer Leiter des Formats führt Julius Rönnebeck gemeinsam mit den Puppen Alma und Emil durch Programme, in denen Musikepochen, Klangstile oder auch Instrumente in fasslicher Form mit großem Erfolg einem jungen Publikum vermittelt werden. Am Rande des Formates und in etwas größerem Umfang hatte am 6. Februar 2024 der Kapell-Hornist Rönnebeck eine repräsentative Besetzung der Staatskapelle und deren Chefdirigenten Daniele Gatti zu einem Sonderkonzert „Natur pur“ in den Konzertsaal des Kulturpalastes eingeladen. Bereits im Fourier des Hauses begrüßte der sympathische Musiker sein gut durchmischtes Publikum von Heranwachsenden, die von seinen Formaten geschult sind, junger Konzertinteressierter sowie einem grossen Teil des bejahrten Stammpublikums.
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Eröffnet wurde das Konzert mit einigen Orchesterliedern von Gustav Mahler (1860-1911) mit Texten aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“.
Julius Rönnebeck führte mit einer lockeren Moderation sein mannigfaltiges Publikum in die Welt der Freunde Clemens Brentano und Achims von Arnim ein, sowie sich Gustav Mahler mit deren Sammlung beschäftigt hatte.
Im Jahre 1801 hatten sich in Göttingen die Studenten Achim von Arnim (1781-1831) und Clemens Brentano (1778-1842) intensiv befreundet. Im Folgejahr unternahmen beide eine Fahrt auf dem Rhein und ließen sich bei der Vorbeifahrt an Felsen, Bergen und Burgen in eine romantische Stimmung versetzen. Ihr ambivalentes Verhältnis zur Fremdherrschaft Napoleons führte nahezu gleichzeitig zu Überlegungen bezüglich ihrer Situation. Einerseits waren sie von den Ideen der Französische Revolution begeistert und begrüßten die sozialen und politischen Veränderungen durch Napoleon, andererseits empfanden sie eine Abneigung gegen die Einschränkungen der deutschen Souveränität. So begannen sie als Gegenentwurf zur Fremdherrschaft sich mit germanischen Dichtungen, mit volksnahen Märchen und Sagen sowie deren Umgangssprache zu beschäftigen. Sie sammelten 723 Liebes-, Soldaten-, Wander- sowie Kinderlieder aus der Zeit des Mittelalters bis zum 18. Jahrhundert und veröffentlichten im Zeitraum von 1805 bis 1808 drei Bände unter dem Titel “Des Knaben Wunderhorn“. So wenig historisch und genau ihre Sammlung war, so beliebig griff Gustav Mahler zwischen 1887 bis 1891 in die Texte und komponierte zunächst Klavierlieder. Bis er ab 1892 zwölf Balladen und Lieder aus der Gedichtsammlung für Orchester und Singstimme schuf ohne dabei an eine zyklische Form zu denken.
Musiker der Sächsischen Staatskapelle begleiteten ziemlich massiv den Bariton Markus Werba unter der energischen Leitung Daniele Gattis zu den Gesängen „Verlorene Müh’“, „Trost im Unglück“, „Wer hat dies Liedlein erdacht?“, „Des Antonius von Padua Fischpredigt“, „Rheinlegendchen“ und „Lob des hohen Verstandes“ aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorns“. Der Bariton Werbas konnte sehr gut mit dem großen Volumen des Konzertsaals umgehen.
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Markus Werba gelang eine beziehungsreiche Interpretation der Mahler-Lieder mit ihrem stillen Sehnen, ihrer unterdrückten Verzweiflung durch eine geschmeidige Melodieführung. Besonders beeindruckend war seine klare Diktion beim „Rheinlegendchen“ und vor allem beim treffend grundierten „I-a“ des Esels im „Lob des hohen Verstandes“.
Der unvermeidliche Beifall und eine launischen Moderation Rönnebecks ließen keine lange Weile, aber eben auch keine Mahler-Stimmung aufkommen.
Im zweiten Konzertteil stand Ludwig van Beethovens (1770-1824) „Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68 (Pastorale)“ auf dem Programm. Komponiert hatte er das von ihm als „Sinfonia pastorella“ benannte Werk nahezu parallel zur qualvollen Arbeit an der fünften Symphonie, seiner „Schicksals-Symphonie c-Moll op. 67“. Offenbar wollte der Komponist in einer Art Selbsttherapie von seinen Erlebnissen der Erholungsspaziergänge, seinen Aufenthalten in der Natur, berichten. Um sicherzustellen, dass er auch verstanden werde, versah er die fünf Sätze der Symphonie jeweils mit programmatischen Erläuterungen seiner Empfindungen, eine Form, die er ansonsten strikt abgelehnte. Uraufgeführt hatte Beethoven das Werk in einem legendären Mamut-Vierstunden-Konzert am 22. Dezember 1808 im Theater an der Wien. Im gleichen Konzert wurde auch unter Beethovens Dirigat seine Symphonie Nr. 5, sein 4. Klavierkonzert, Teile der Messe op. 86 sowie der Chorfantasie op. 80 und eine Arie für eine Sopranistin aufgeführt. Die Forschung ist sich ziemlich sicher, dass der Komponist mit dem brachialen Aufwand der Öffentlichkeit einen Querschnitt seines Schaffens der vorausgegangenen zweieinhalb Jahre präsentieren wollte. Aber die Bedingungen für den Erfolg seiner Absichten waren denkbar ungünstig. Der Konzertraum war nahezu unbeheizt und das Orchester hatte zu wenig geprobt, so dass es zu Irritationen mit dem Dirigentenkam. Auch der Pianist Beethoven wäre mehrfach neben der Spur gewesen. Über die Aufnahme des Konzertes bei den Besuchern, wie viele und wie lange wer im bitterkalten Saal ausgehalten hat, habe ich kaum zuverlässige Angaben gefunden. Nur vom deutschen Musikschriftsteller und Komponisten Johann Friedrich Reichhardt (1752-18149 ist die Äußerung nach überstandenen vier Stunden überliefert, „dass man auch des Guten, und mehr noch, des Starken leicht zu viel haben kann“.
Bei der Programmgestaltung hatte Beethoven mit seiner „Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 86“ jenes Werk an den Anfang gestellt, das ihn von seiner unbekannten Seite offenbaren sollte. Die Etablierung der „Pastorale“ im Kanon der Beethoven-Symphonien erwies sich allerdings zäh. Selbst im Gewandhaus zu Leipzig, wo Friedrich Rochlitz (1769-1842) für eine intensive Beethoven-Pflege sorgte, tat man sich lange schwer mit dem lyrischen Finale des Werkes. Eine Symphonie habe kernig zu enden. Das Bild des ewig kämpferischen Genies passte einfach besser ins Bild.
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Der Versuch, Beethoven mit der Pastorale zum ersten Botschafter für den Klimaschutz ernennen, geht gar nicht, auch wenn es solche Ideen gab. Er ließ sich zwar von Maschinengeräuschen inspirieren, mit dem Beginn der Umweltbeeinflussungen durch industrielle Entwicklungen hatte er keine Berührungspunkte.
Kaum hatte Daniele Gatti Beethovens Werk angespielt, als er von einem mit Roller auf das Podium einbrechenden Julius Rönnebeck unterbrochen und den Dirigenten in ein Gespräch über Beethoven sowie seine Pastorale verwickelte. Damit war eigentlich die hochkarätige Einführung in eine geschlossene Wirkung des Folgenden gesichert.
Beethoven hatte seine Komposition „Sinfonia pastorella“ genannt, was als Schäferin-Sinfonie zu übersetzen wäre. Denn „Pastoral“ bezieht sich auf das Leben, die Bräuche und Lieder der Hirten.
Daniele Gattis ließ mit seinem Dirigat vermuten, dass er sich hin- und hergerissen fühlte, ob er seine Interpretation als ein Werk der Gattung der Vergangenheit, der Klassik gestalten, oder eine Betonung des neuen Naturgefühls der Romantik des 19. Jahrhunderts vorziehen sollte. Oder fürchtete er sich vor den Zwischen-Moderationen des am Rande wartenden Rönnebecks?
Mit Gattis friedlicher Eröffnung in den beiden ersten Sätzen, hätte man sich eine Landschaft vor einem Sturm vorstellen können. Dem folgte die Auflösung der Kontinuität, indem ohne weitere Unterbrechungen zunächst gefeiert wurde. Der Kontrast zwischen der friedlichen Situation und dem Gewitter-Sturm war deutlich gestaltet, aber nicht so brutal, wie oft dargeboten. Das Unwetter war eben lediglich eine Episode und keine beständige Bedrohung, so dass die Musik ohne Brüche in den leuchtenden Finalsatz übergehen konnte. Der Klang des Orchesters blieb immer transparent und ausgeglichen. Man hatte den Eindruck, dass Gatti die Musiker der Staatskapelle auf Beethovens Wunsch zu „mehr Ausdruck der Empfindungen als Malerei“ eingeschworen habe, um eine ausgewogene Wirkung zu sichern. Eigentlich das Richtige für Besucher mit wenig Konzerterfahrung.
Soweit wir beobachten konnten, hatte die Zielgruppe der Besucher die Veranstaltung bis zum Schluss aufmerksam verfolgt und mit Ovationen nicht gespart. Wie nachhaltig die Wirkung des Erlebten gewesen war und wie das Zerfleddern den Effekt der Veranstaltung beeinflusste, müssen Musikpädagogen beurteilen.
Auf jeden Fall war der Abend ein wichtiger Beitrag auf dem Wege der Gewinnung neuer und vor allem junger Besucher anspruchsvoller Konzerte.
Thomas Thielemann, 8. Februar 2025
Gustav Mahler: Fünf Orchester-Lieder aus „Des Knaben Wunderhorn“,
Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68 „Pastorale“
Moderiertes Sonderkonzert „Natur pur“ für Besucher eines Lebensalters von 13 bis 99 Jahre
Konzertsaal des Kulturpalastes Dresden
6. Februar 2025.
Dirigent: Daniele Gatti
Solist: Markus Werba, Bariton
Moderation: Julius Rönnebeck
Sächsische Staatskapelle Dresden